Thomas Greiner
Jetzt beginnt sie also wieder: die Fastenzeit, in jedem Jahr die Zeit, in der Christinnen und Christen sich mehr oder weniger intensiv auf Ostern vorbereiten. Und wie jedes Jahr stellt sich mir die Frage, wozu?
Wozu soll ich mich auf Ostern eigens vorbereiten? Was soll mir diese Zeit im Jahr bringen und was macht sie vielleicht sogar besonders?
Der gesellschaftliche Befund ist eindeutig: Nur noch eine Minderheit wird heute – zumindest hier bei uns – diese 40 Tage von Aschermittwoch bis Karsamstag (wenn man die Sonntage jeweils ausspart) allein deshalb begehen, weil sie in ihrer Kirche die traditionelle österliche Buß- oder Passionszeit bilden. Wenn die Fastenzeit überhaupt eine Rolle spielt, dann doch eher, weil Wellnesskultur und Gesundheitsindustrie sich dieser sieben Wochen so intensiv angenommen haben, dass kaum jemand ihren unzähligen Angeboten entgeht, Körper und Geist gerade in dieser Zeit besonders zu trainieren, um noch gesünder, bewusster und achtsamer zu sein. Aber ist es das? Ist das alles, was mir die Fastenzeit bringt?
Traditionell gilt die Fastenzeit als eine Zeit der Entsagung. Wir sollten „den alten Adam zähmen“, also jedes Jahr wieder lernen, dass unser Leben hier endlich ist und wir unsere kurze Zeit auf Erden nutzen, um nach unserem Tod mit Christus vereint zu werden und die Freuden des Himmels genießen zu können. Am Aschermittwoch hören wir in den Kirchen, wir sollten bedenken, dass wir sterblich sind, und folglich umkehren und an das Evangelium Jesu glauben. Fromme Ratschläge! Aber wen erreichen sie noch? Und entspringen diese Ratschläge oder besser: diese moralischen Imperative nicht letztlich einer ins Jenseits vertagten Wellness? Hier auf Erden sollte ich tunlichst meine Sünden bereuen, um sie nicht später bereuen zu müssen. Da ist es doch nur graduell, ob die „Sünden“ ernsthafte moralische Fehler sind oder in zu viel Schokolade, Fleisch oder Alkohol bestehen. Wellness bleibt dann Wellness, im Diesseits wie im Jenseits.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe überhaupt nichts gegen Wellness. Jede und jeder mag sich so intensiv, wie sie mögen, um das eigene Wohlergehen kümmern. Das ist völlig legitim, und auf sich selbst besser zu achten, ist oftmals dringend geboten. Was wir in der Fastenzeit aber vielleicht mehr als sonst im Jahr erfahren können, ist den Blick zu weiten.
Den Blick weiten auf das, was unser Leben wirklich ausmacht.
An Ostern feiern wir den Sieg des Lebens. Dass der Tod nicht das letzte Wort über uns hat und wir nicht im Nichts enden. Niemandes Leben endet im Nichts! Diese Hoffnung ist nicht selbstverständlich, in Zeiten wie den unseren schon gar nicht. Aber diese Hoffnung trägt gerade Christinnen und Christen seit nahezu 2000 Jahren. Denn dieser Jesus, dem nachzufolgen der Sinn des Christseins ist, ist die Personifizierung der Hoffnung auf das Leben, das gelingende Leben.
Die Apostelgeschichte nennt ihn gar den „Archegon tes zoes“ (Apg 3,15), den Anführer des Lebens, also denjenigen, der uns durch Leiden, Tod und Auferstehung hindurch auf dem Weg zur Fülle des Lebens vorangeht. Seine ganze Botschaft besteht in nichts anderem als der Verheißung dieser Fülle des Lebens. Und die beginnt nicht erst im Jenseits. Das Reich Gottes, von dem Jesus spricht, ist die Erfahrung dieser Fülle schon hier und jetzt. Wenn wir jetzt am Beginn der Fastenzeit in den Kirchen das Wort aus dem Markus-Evangelium hören: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15), dann steht im griechischen Text des Neuen Testaments für „Kehrt um“ das Wort „metanoeite“. In vielen Bibelübersetzungen, insbesondere denen, die auf Martin Luther zurückgehen, wird es mit „Bereut!“ wiedergegeben. Das ist durchaus richtig, denn wie viel in unserem Leben gibt es, das wir falsch gemacht haben und nun bereuen; und diese Reue ist mit Sicherheit der erste Schritt hin zu einem befreiten Leben. Aber das griechische Wort metanoeite meint mehr. Es meint wörtlich: die Blickrichtung zu ändern, sein Denken zu ändern, weiter und größer zu denken. Den Blick vor allem nicht mehr allein auf sich selbst zu richten, auf den eigenen Bauch und das eigene Wohlbefinden, sondern sich aufzurichten und nach vorne zu schauen; und sich so aus der Enge zu befreien; eben ein Leben in Fülle zu leben und darauf zu vertrauen, dass mit Jesus ein Weg zu einem solchen gelingenden Leben möglich ist.
In der kirchlichen Tradition waren seit jeher „Fasten“, „Almosengeben“ und „Gebet“ die drei wesentlichen Praktiken, die in der Fastenzeit zu üben waren. Das Fasten hat seinen Sinn im bewussten Verzicht auf etwas, das unser Leben beschwert und unfrei werden lässt, seien es nun Lebensmittel, Luxus oder schlechte Angewohnheiten. Gerade der Verzicht darauf lässt uns spüren, dass wir, ganz egal was es betrifft, nicht davon abhängig sein müssen. Die Fastenzeit kann uns spüren lassen, wie befreiend es ist, grundsätzlich weniger für sich selbst zu fordern und zu verbrauchen. Und das Almosengeben, ein Wort, das wir heute eher für veraltet halten, meint weit mehr als Geld- oder Sachspenden. Es ist im Grunde nichts anderes als die Erfahrung, dass wir nicht nur für uns selbst da sind, sondern unser Leben in der Zuwendung, im Dasein für Andere, bedeutend reicher wird, gerade für diejenigen, die unsere Hilfe brauchen. Niemand kann für sich allein leben; wir Menschen brauchen Gemeinschaft. Wir alle wollen spüren: Da ist jemand, die oder der ist für uns da, ist uns zugewandt, lässt uns nicht allein. Eine solche Erfahrung kann uns gerade in der Fastenzeit geschenkt werden. Sie lässt uns aufblühen und zeigt uns, wie unser Leben gelingen kann. Und im Gebet schließlich, also dem bewussten Hören auf Gottes „Stimme“ in meinem Leben, erfahre ich, wie sehr ich in der Begegnung mit diesem Leben auch Gott erfahren kann. Gerade in der Fastenzeit kann mir bewusstwerden, wie sehr mein Leben getragen ist und ein Ziel hat.
Dann aber heißt „Fastenzeit“ nicht nur, weniger zu essen, mehr Sport zu treiben oder wenigstens sieben Wochen mit dem Rauchen aufzuhören. Dann bietet gerade diese Zeit im Jahr die Gelegenheit, bewusst dem Leben zu begegnen, und zwar einem Leben, das freier und hoffnungsvoller werden lässt. Das wünsche ich uns allen – nicht nur in dieser Fastenzeit.
Thomas Greiner (*1964) ist Ministerialdirigent im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Neben diesem Zivilberuf ist er katholischer Diakon im Erzbistum Berlin und z.Z. in der Pfarrei St. Franziskus Reinickendorf-Nord als Ständiger Diakon eingesetzt (diakonthomas.de).