Ulrich Beyer erläutert die Bedeutung die Bedeutung von Physik für die Zukunft unserer Gesellschaft.
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Ulrich Bleyer
Warum Physik?
Physik ist die Grundlagenwissenschaft der Naturerkenntnis, darum Physik! Eine einfache Antwort, aber die gilt es zu erklären: In allem was uns umgibt, was wir in die Hand nehmen oder beobachten steckt Physik. Der Mensch hat sich die ihn umgebende Natur mit immer besseren Hilfsmitteln erschlossen, wissenschaftliche Methoden entwickelt um die Phänomene der Natur zu beschreiben und zu erklären. Die zunehmende Vielfalt der Fragestellungen hat zu einer Differenzierung dieser Naturkunde und damit zu den Einzelwissenschaften geführt wie wir sie heute kennen. Physik ist dabei die Grundlagenwissenschaft, weil sie den Aufbau der Natur auf wenige elementare Bausteine zurückführen und alle Wechselwirkungen mit vier elementaren Kräften beschreiben kann.
Was heißt beschreiben, dafür braucht man eine Sprache. ”Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben“, so formulierte es Galileo Galilei vor fast vierhundert Jahren. Die Mathematik stellt Verfahren und Strukturen zur Verfügung, mit denen man Naturphänomene effektiv beschreiben kann. Manchmal wurden sie aus den Anforderungen der Physik heraus entwickelt, wie im Falle der Infinitesimalrechnung, manchmal gab es die formalen Strukturen und sie haben sich als gut geeignet für eine Physikalische Theorie erwiesen, wie dies für die Riemannsche Geometrie der gekrümmten Räume der Fall war, die Einstein für seine Beschreibung der Schwerkraft verwenden konnte.
Doch wir wollen nicht nur beschreiben, nicht nur formale, logische Abbilder der Natur erzeugen, wir wollen Kräfte berechnen und Mondfinsternisse vorhersagen. Doch wie wird aus einem kleinen „m“, das für die Masse steht, und dem kleinen „g“, das für die Fallbeschleunigung verwendet wird, durch die Multiplikation mxg ein Gewicht, das wir spüren wenn es auf den Fuß fällt oder wir es anheben wollen? Die Verknüpfung der mathematischen Beschreibung mit den Naturphänomenen gelingt über eine Messvorschrift und ein entsprechendes Messgerät. Im Falle des Gewichts ist es eine Waage und die Referenz war über viele Jahrzehnte das Urkilogramm, das gut verwahrt zur Eichung aller unserer Wiegeprozeduren diente. Mit Hilfe der Messvorschriften lässt sich eine Naturerscheinung quantitativ erfassen, und mit Hilfe des mathematischen Formelwerks der physikalischen Theorie kann man die Entwicklung eines Systems beschreiben und Vorhersagen treffen. Kennt man Anstellwinkel und Anfangsgeschwindigkeit eines Speeres, so kann man die Weite des Wurfs vorherberechnen.
Dieses Beispiel zeigt aber auch gleich ein Problem. Die Vorhersage geht nur, wenn wir entweder exakt den Luftwiderstand einbeziehen, oder dessen Effekt ist verglichen mit der Kraft des Wurfs so klein, dass wir ihn vernachlässigen können. Die Physik erschließt sich die Natur durch Messen und Beobachten. Gemessen wird unter Bedingungen, die störende Faktoren ausschließen und damit das Ergebnis wiederholbar und überprüfbar machen. Phänomene, mit denen wir nicht experimentieren können, wie die Bewegung der Sterne, können wir nur beobachten. Hier können wir aus vielen wiederkehrenden Beobachtungen eine Theorie erstellen, deren Richtigkeit durch Ihre Vorhersagen bestätigt wird. Wenn der Schatten der Erde pünktlich den Mond verdunkelt, dann haben wir die Bewegung des Mondes und der Erde richtig beschrieben.
Bei diesem Beispiel nutzen wir eine wichtige Annahme über die uns umgebende Natur. Wir gehen davon aus, dass die Naturgesetze im weit entfernten Weltraum genauso gelten wie auf der Erde. Erkennbarkeit und Einheit der Welt sind wichtige Voraussetzungen für ihre wissenschaftliche Erklärung. Diese Annahme wird durch all unsere Erfahrungen und Erkenntnisse über den Kosmos bestens bestätigt. So sind z.B. die chemischen Elemente überall die gleichen wie auf der Erde.
Damit ist das Stichwort Chemie gefallen, es gibt auch noch Geologie, Biologie, Meteorologie…. Was macht Physik anders als diese Wissenschaften? Die Chemie z.B. erforscht die Eigenschaften von Stoffen, ihre Veränderungen, die Reaktionen zwischen ihnen. Die Physik kann diese Stoffe auf ihre Moleküle und deren Atome und die wieder auf ihre Bestandteile, die Elementarteilchen zurückführen. Auch die Elemente der lebenden Materie wie Eiweiße oder Zellmembranen, bestehen aus diesen elementaren Bausteinen und entstehen durch deren Wechselwirkung. Aber die Natur ist so komplex, dass es sich als sinnvoll erwiesen hat eben nicht jedes Atom eines Steins sondern das Mineral als Ganzes, nicht die Molekülkette sondern den Kunststoff zu beschreiben. So sind verschiedene Wissenschaften entstanden, doch die Grundlage liegt in der Physik, sie untersucht was die Welt im Innersten zusammenhält.
Dieses Verständnis elementarer Zusammenhänge ermöglicht neue Materialien mit speziellen Eigenschaften zu erzeugen, immer kleinere elektronisch Bausteine zu entwickeln, all die technischen Anwendungen zu ermöglichen, die unseren Lebensstandard heute ausmachen. Deshalb Physik studieren, sich für Physik begeistern, deshalb Physik fördern, Physik anwenden. Denn die wissenschaftlichen Methoden der Physik, ihre mathematische Durchdringung genauso wie die Fähigkeit, komplexe Phänomene auf einfache Messvorgänge in Experimenten zurück zu führen machen sie nicht nur für technische Anwendungen interessant.
Die Ausbildung in dieser wissenschaftlichen Methode vermittelt Fähigkeiten, die wir in den unterschiedlichsten Berufen und Positionen wiederfinden, vom Industriemanager bis zum Kanzleramt. Weit über Forschung und technische Anwendung hinaus steht die Physik also mitten in unserer Gesellschaft. Die Physiker bringen ihre Expertise ein, wie jetzt bei der Untersuchung des Corona-Virus durch Röntgenstrukturanalyse, sie brauchen dafür aber auch die passenden Rahmenbedingungen für freie Forschung, auch unabhängig von den erwarteten Resultaten. „Physik für und in der Gesellschaft“ ist deshalb das Motto der Deutschen Physikalischen Gesellschaft anlässlich ihres diesjährigen 175. Gründungsjubiläums. Jeder kann sich ihre Faszination erschließen, Angebote gibt es viele. Am besten aber fragen Sie eine Physikerin oder einen Physiker.
Dr. Ulrich Bleyer (1950) studierte Physik an den Universitäten Jerewan und Leningrad und forschte von 1974-1992 am Zentralinstitut für Astrophysik und am Einstein-Laboratorium für Theoretische Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR, von 1992-1995 als Privatdozent an der Universität Potsdam. Von 1995-2018 war er Programmdirektor und Geschäftsführer der Urania Berlin e.V. Seit 2018 ist er Vorstandsmitglied für Öffentlichkeitsarbeit der Deutsche Physikalischen Gesellschaft.