Hans-Gert Pöttering fordert von und in der Europäischen Union mehr politische Führung wo um die Lösung von Herausforderungen geht, zu denen die Nationalstaaten allein nicht der Lage sind.
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Hans-Gert Pöttering
Europas Tagesordnung der Zukunft
Innerhalb der nächsten anderthalb Jahre steht die Europäische Union vor zahlreichen Herausforderungen: die Brexit-Verhandlungen, die Vereinbarung zum Mehrjährigen Finanzrahmen (2021 bis 2027), Reformprozesse innerhalb der Europäischen Union, Abkommen mit Drittstaaten (z. B. zu Handel oder Migration), Beitrittsverhandlungen mit Staaten des westlichen Balkans sowie nicht zuletzt die Wahlen zum Europäischen Parlament mit anschließenden Besetzungen von Kommissions- und Parlamentsposten. Bei alldem kommt es auf eine gute und effektive Gestaltung von Verhandlungen und Gipfeln an, um nachhaltige Lösungen zu ermöglichen. Führung ist gefragt, um eine Einheit zu formen, doch ohne jemanden auszuschließen oder zu überstimmen. Minderheitsmeinungen müssen auch weiterhin Gehör finden, ganz im Sinne des europäischen Mottos „Einheit in Vielfalt“. Allein die Gestaltung der Tagesordnung ist deshalb schon bedeutend.
In meiner Zeit als Präsident des Europäischen Parlaments (2007 bis 2009) hatte ich die schwierige Aufgabe, ein Parlament aus damals 27 Nationen und diversen politischen Gruppierungen zu leiten und zu repräsentieren. Das Europäische Parlament spiegelt die Vielfalt der europäischen Völkerfamilie wider. Es spiegelt die Vielfalt der Lebensentwürfe, Weltbilder und Meinungen wider, die wir in der heutigen Europäischen Union vorfinden. In einer klugen Kombination von Einheit und Vielfalt ist es in der Europäischen Union gelungen, den Frieden zu bewahren. Besonnenheit und Klugheit sind beim Bemühen um die Einheit Europas von besonderer Bedeutung.
Führungsaufgaben im Europäischen Parlament wahrzunehmen, bedeutet vor allem, Geduld zu haben – Geduld mit den Kolleginnen und Kollegen, Geduld im Hinblick auf die Zeitabläufe, in denen Entscheidungen möglich sind. Zuhören, Kompromissbereitschaft und vor allen Dingen Respekt voreinander, sowohl hinsichtlich der Person als auch deren Überzeugungen, sind notwendige Voraussetzungen, erfolgreich das Europäische Parlament zu führen. Geduld, Kompromissbereitschaft und Respekt sind bei den schwierigen Verhandlungen in der Europäischen Union notwendig, um Ergebnisse zu erreichen. Dies gilt für die Situation auf dem westlichen Balkan ebenso wie für ein Ergebnis beim Mehrjährigen Finanzrahmen oder bei den Verhandlungen zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union.
Aber alles hat seine Grenzen. Wenn der politische Sachgegenstand oder die Glaubwürdigkeit beziehungsweise die Autorität von Verantwortlichen es erfordern, so sind im Europäischen Parlament auch Disziplinarmaßnahmen gegenüber Kollegen als letztes Mittel notwendig. Bei der Gefährdung der Demokratie oder des Rechtsstaates in einzelnen Ländern der Europäischen Union gibt es noch keinen effektiven Mechanismus, diesen Gefährdungen entgegenzuwirken, da dafür die Einstimmigkeit im Europäischen Rat erforderlich ist. Gleichwohl ist es ein Fortschritt, dass die Debatte darüber nicht mehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates der EU angesehen wird.
Die Berufung eines mehrjährigen Präsidenten des Europäischen Rates und die Festlegung auf Spitzenkandidaten für die Wahlen zum Europäischen Parlament, anhand derer der Kommissionspräsident ausgewählt wird, waren notwendige Schritte, um Glaubwürdigkeit im Sinne von Kontinuität und Autorität durch demokratische Legitimität zu erzeugen. Die Europäische Union muss sich aber auch in die Lage versetzen, noch mehr Führungsaufgaben wahrzunehmen. Dies betrifft ganz besonders die politische Agenda. Die Tagesordnung von Europäischen Ratsgipfeln darf nicht ausschließlich von externen Problemen bestimmt werden. Die Europäische Union muss Raum und Zeit haben, um eigene Themenschwerpunkte setzen zu können. Die aktive Gestaltung der Zukunft, unter Berücksichtigung von Traditionen und Vergangenheit, muss das Leitmotiv einer europäischen Debattenkultur sein.
Im Sinne der Subsidiarität ist aber auch immer wieder die Frage zu stellen, welche Ebene am besten geeignet ist, zur Bewältigung und Lösung eines Problems beizutragen. Im Geist des Subsidiaritätsprinzips, das der katholischen Soziallehre entstammt, soll jede Ebene des Lebens und der Politik über die Dinge entscheiden, von denen sie am meisten versteht und die sie am besten regeln kann. Daher müssen − auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips − die Politikbereiche, die in Zukunft auf europäischer Ebene gestaltet werden sollen, festgelegt sein. Bei Walter Hallstein war das Subsidiaritätsprinzip noch keine Handlungsmaxime. Dies ist verständlich, da es in seiner Zeit darum ging, Europa Zuständigkeiten zu vermitteln. Die Europäische Union muss heute aber die Möglichkeit erhalten, die ihr übertragenen Kompetenzen auch effizient auszuüben. Denn erst durch die europäische Einigung führen wir die Potenziale unseres Kontinents zusammen. Das ist der Maßstab, an dem wir das Einigungsprojekt messen müssen. Die Europäische Union ist daher eine Einheit ohne Zwang, ohne Kollektivismus, ohne Beschädigung unserer Eigenheiten, wo immer wir in der Europäischen Union leben. Europa soll und darf aber kein Schmelztiegel werden. Die kulturelle Vielfalt und die jeweilige nationale Identität der Völker Europas sind kein Mangel, sondern ein Reichtum des europäischen Kontinents. Besonders auch die kommunale Ebene ist von großer Bedeutung. Heimat, Vaterland und Europa sind kein Gegensatz, sondern gehören zusammen.
Die Europäische Union sollte sich in der Zukunft daher insbesondere um die Lösung von Herausforderungen bemühen, zu denen die Nationalstaaten allein nicht der Lage sind. Dazu gehört vor allem eine gemeinsame Asyl- und Zuwanderungspolitik mit sicheren EU-Außengrenzen, die Verwirklichung einer wirksamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Verteidigungsunion), die Stärkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Sicherung unserer gemeinsamen Währung. Von ganz besonderer Bedeutung ist das „kulturelle Europa“. Deswegen sollte die Europäische Union auch in ihrem neuen Finanzrahmen der Förderung der jungen Generation Europas durch das Erasmus-Programm besondere Priorität geben.
Dr. Hans-Gert Pöttering (1945) hat Rechtswissenschaften, Politik und Geschichte in Bonn und Genf studiert. Von 1979 – 2014 war er Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er 1997 – 2007 Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) war. 2007 – 2009 war Pöttering Präsident des Europäischen Parlaments und dann von 2010 – 2017 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit der Gründung ist er Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de