Roland Freudenstein plädiert dafür, sich in der Europapolitik von gewohnten Mantras zu lösen und den Schwerpunkt auf konkrete Fortschritte statt auf grossartige Visionen zu legen.
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Roland Freudenstein
Für einen europäischer Neuanfang
Schaut man sich das bisher schon katastrophale Jahr 2016 an, dann erkennt man, dass viel von der üblichen Europa-Rhetorik einfach nicht mehr hilfreich ist, wie Bundeskanzlerin Merkel sagen würde. Dafür einige Beispiele. Man könnte sie die Mantras der klassischen Europadebatte nennen, nach dem Sanskrit-Wort für “Klangkörper einer spirituellen Kraft, die sich durch meist repetitives Rezitieren im Diesseits manifestieren soll” (Wiki). Hier sind drei der häufigsten:
“An Krisen wächst die EU”
Das mag bisher oft der Fall gewesen sein. Aber selbst die hartgesottensten Mustereuropäer gestehen inzwischen ein, dass bei dieser Kumulation von Krisen die EU auch scheitern kann. Natürlich wird diese Möglichkeit dann wieder umgedeutet in einen Imperativ zu mehr Integration. Aber wenn die Gewissheiten von gestern nicht mehr automatisch gelten, könnte es nicht sein, dass die Rezepte von gestern auch nicht mehr weiter helfen?
“Mehr Europa!” oder: Die Metapher vom Fahrradfahrer
Dass eine Verlagerung von Kompetenzen auf die Europäischen Institutionen grundsätzlich richtig und eine immer engere Union so etwas wie eine geschichtliche Notwendigkeit seien, wurde in der Vergangenheit gern mit dem Gleichnis vom Fahrradfahrer demonstriert, der nur die Optionen hat, entweder vorwärts zu fahren oder umzufallen. Worauf die logische Antwort natürlich lautet, dass es vollkommen ausreicht, fest den Fuss auf den Boden zu stellen. Mit anderen Worten: Ein Jahrzehnt ohne Vertragsänderung würde uns vielleicht ganz gut tun. Denn jede versuchte Vertragsänderung im Moment würde bei dem spürbaren Grad an EU-weitem Dissens in der politischen Katastrophe enden.
“Wenn die Nationalstaaten verschwinden, wird alles gut”
Besonders in Deutschland hat sich dieses Mantra lange gehalten. Aber wir haben die Kraft des Nationalen unterschätzt, und die Verbindung zwischen modernem Nationalstaat und Demokratie verdrängt. Die “Vereinigten Staaten von Europa” bleiben auf absehbare Zeit Utopie. Auch wird eine Ausweitung der Gemeinschaftsmethode, also einfach gesagt, weitere Zuständigkeiten für die supranational angelegte EU-Kommission, in naher Zukunft nicht in Frage kommen. In der Eurokrise haben tatsächlich die Mitgliedstaaten im Rat an realem Einfluss gegenüber der Kommission gewonnen. Das ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Der Glaube, dass nur supranationale Institutionen wie die Kommission rationale Politik betreiben können, führt in die Irre.
Was also tun?
Wenn die EU und ihre Institutionen Glaubwürdigkeit zurück gewinnen wollen, dann muss die EU wieder konkrete Erfolge vorweisen. Das heisst erstens: Rückkehr zu nachhaltigem Wachstum. Das wird aber nicht erreicht durch eine Transferunion in der Eurozone oder durch milliardenschwere, von der Kommission gesteuerte Investitionsprogramme wie den Juncker-Plan. Sondern durch solide Haushalte, wirtschaftliche Reformen (Arbeitsmarkt, Renten, Bürokratieabbau) und erst dann durch Investitionen in Infrastruktur, Bildung etc.
Und das heisst zweitens: spübare Erfolge bei der inneren und äusseren Sicherheit. In der Terrorismusbekämpfung müssen die Geheimdienste besser kooperieren, und bei der Stärkung einer europäischen Verteidigung müssen die Verteidigungsbudgets wieder in allen Mitgliedstaaten wachsen. Ausserdem muss dringend die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO verbessert werden. Deutschland muss sich endgültig davon verabschieden, bei der “soft power” und in der Logistik zu glänzen und sich aus Kampfeinsätzen herauszuhalten. Ohne einen Quantensprung Deutschlands bei dem legitimen Gebrauch militärischer Macht wird es keinen Fortschritt in einer EU-Verteidigungs- und Interventionskapazität geben, ohne die wir wiederum unsere Nachbarschaft nicht werden stabilisieren können.
Alle diese Schritte werden nicht möglich sein als Resultat von Druck (oder noch schlimmer: Zwang) aus Brüssel, sondern nur aufgrund von Einsicht nationaler Regierungen in die Notwendigkeiten. Eine neue Zentralisierung – z.B. als Reaktion auf den Brexit – der gesamten EU, oder auch nur eines Teils (Kerneuropa) ist weder möglich noch wünschenswert. Statt dessen täte Europa gut daran, sich auf das gute alte christlich-soziale Prinzip der Subsidiarität zurück zu besinnen. Das gilt übrigens besonders für gesellschaftspolitische Fragen wie gleichgeschlechtliche Ehe oder Abtreibung. Hier gibt es keine EU-Kompetenz, und bei aller Sympathie für die erfolgreichen Proteste in Polen gegen ein totales Abtreibungsverbot, sollte man den Euroskeptikern auf der Rechten auch nicht erlauben, eine solche zu konstruieren. Damit macht man es ihnen nur leichter, die Wut auf “Brüssel” zu schüren.
In den Debatten und Konflikten um die Frage, wer wir eigentlich in 20 Jahren sein wollen (und um nichts geringeres geht es in der Flüchtlingsdebatte) kann man gar nicht oft genug betonen: Zuhören, verstehen, kommunizieren. Wenn man Angela Merkels Vision der von Viktor Orbán gegenüberstellt, dann steht sie – in den Augen der Europäer – eher für ein multiethnisches und multireligiöses Europa, und er für ein weisses und christliches. Dabei sollten beide Visionen ein wenig mehr darauf ausgerichtet sein, die offene Gesellschaft zu erhalten. Was immer FIDESZ in Ungarn an konservativer Politik betreibt: die Rechtsstaatlichkeit muss gewahrt bleiben, egal welche Mehrheit die ungarischen Wähler der Partei beschert haben, denn zu diesem Prinzip haben sich alle Mitgliedstaaten bekannt. Und die unbeirrbaren Fans der Bundeskanzlerin sollten zur Kenntnis nehmen, dass auch ein unkontrollierter Zustrom an Migranten aus einigen der ärmsten und gewalttätigsten Regionen der Welt (und natürlich auch die Giftigkeit der Kontroverse darüber) ein Risiko für die offene Gesellschaft darstellen. Beide Seiten sollten aufhören,der jeweils anderen das Europäertum abzusprechen und für sich allein die Zukunft zu reklamieren.
Das sind die wichtigsten Elemente eines europäischen Neuanfangs, der sich von überkommenen Denkmustern löst und konkrete Fortschritte über grossartige Visionen stellt. Und der versucht, einen neuen europäischen Minimalkonsens herauszuarbeiten. Reden wir darüber, und zwar miteinander und nicht aneinander vorbei.
Roland Freudenstein (1960), Stellvertretender Direktor des Centre for European Studies, der parteinahen Stiftung der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel und 2010-2012 Leiter der Kommission zur Formulierung des neuen Grundsatzprogramms der EVP.