Rainer Wieland MdEP unterstreicht, dass es einen deutlichen Unterschied geben muss, ob ein Land Mitglied der Europäischen Union ist oder nicht.
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Rainer Wieland
Europas Zukunftswege
Unbestritten stehen Europa und die Europäische Union vor einer Zeit, die große Herausforderungen mit sich bringt. Die Flüchtlingskrise und die damit verbundene Debatte um die Sicherung der Außengrenzen, die Brexit-Abstimmung und der damit wahrscheinliche Austritt Großbritanniens aus der EU, die Staatsschuldenkrise, terroristische Bedrohungen sowie Ceta und TTIP, zerren derzeit an dem Projekt Europäische Union. Steht das vor Jahrzehnten erschaffene Friedensprojekt EU damit vor dem Aus? Keineswegs. Aber sagen kann man sicher, dass wir in Europa derzeit eine Menge ungelöster Probleme haben. Wir sind jetzt angehalten ein besseres Europa zu schaffen. Ein Europa, das unsere Lebensweise bewahrt, das den Bürgerinnen und Bürgern nutzt, aber auch ein Europa, das mehr Verantwortung übernimmt.
Ein wesentlicher Teil unserer europäischen Lebensweise, sind die Werte auf denen diese aufgebaut ist. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit! Dafür kämpfen wir nicht mehr mit Waffen, sondern mit unseren politischen und diplomatischen Mitteln, die wir uns in den letzten Jahrzehnten erarbeitet haben. Unsere Meinungsverschiedenheiten lösen wir mit Worten und nicht in Schützengräben. Und dies müssen wir unter allen Umständen verteidigen. Daher darf Europa insbesondere auch in Zeiten des Terrors die Augen nicht verschließen. Wir müssen in schweren Zeiten zusammenstehen und vor allem grenzübergreifend zusammen arbeiten, wenn es um die Bekämpfung von Terrorismus und die Ergreifung der Täter geht. Die Menschen in Europa haben ein Recht darauf, sich sicher zu fühlen.
Klar ist aber auch, dass uns das derzeit nicht ausreichend gelingt. Das Erstarken der populistischen Parteien in einer Vielzahl von Mitgliedsstaaten ist besorgniserregend. Krönung der gegenwärtig steigenden EU-Skepsis war wohl der Ausgang der Brexit-Abstimmung in Großbritannien. Die Entscheidung vom 23. Juni ist äußerst bedauerlich und eine Zäsur für Europa. Das Ergebnis des EU-Referendums wurde bei der CDU im Europäischen Parlament mit Sorge aufgenommen. Mit Großbritannien verlieren wir ein Schwergewicht. Aber trotz allem Bedauern, müssen wir diese Entscheidung akzeptieren. Allerdings auch mit aller Konsequenz. In vielen Bereichen gab es bereits jetzt und wird es noch erhebliche Auswirkungen auf die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs – besonders auf die junge Generation – geben und natürlich auch für das politische Europa. Als eine erste Konsequenz hat die Britische Premierministerin Theresa May bekanntgegeben, dass Großbritannien nicht wie geplant die EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2017 übernehmen wird.
Wir müssen unser Verhältnis zum Vereinten Königreich neu ordnen. Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Allerdings können wir uns eine mehrjährige Hängepartie für die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem sich von ihr lösenden Insel nicht leisten.
Aus Sicht der EU darf und wird es für Großbritannien dabei keine Privilegien geben. Europa war und ist kein Rosinenkuchen. Die Austrittsverhandlungen werden hart geführt. Wer weiterhin in den Genuss einzelner Segnungen des Binnenmarktes kommen will, muss dafür auch Gegenleistungen erbringen, so wie dies heute schon die Schweiz und Norwegen tun. Es muss einen deutlichen Unterschied geben, ob ein Land Mitglied der Europäischen Union ist oder nicht. Freien Zugang zum Binnenmarkt bekommt der, der unsere vier europäischen Grundfreiheiten ohne Abstriche akzeptiert: die Freizügigkeit von Menschen, Dienstleistungen, Gütern und Kapital.
Aber auch für Europa bedeutet der Ausgang des Referendums, dass es ein Weiter-so nicht geben kann. Die Menschen fühlen sich in einigen Bereichen von der EU nicht umfänglich geschützt. Für die Europäische Union ist es nun an der Zeit, das Augenmerk wieder auf konkrete Politik zu lenken. Wir müssen uns jetzt endlich den eigentlichen Herausforderungen unserer Zeit stellen, allen voran der wirtschaftlichen Entwicklung und dem sozialen Zusammenhalt, Europas Innovationspotential und der inneren und der äußeren Sicherheit. Wir brauchen ein Europa an dem die Bürgerinnen und Bürger teilhaben und mit dem sie sich identifizieren können. Wir müssen den Menschen zeigen, worauf die unsere Europäische Union fußt. Denn die Frage, welchen Wert die Europäische Union für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger noch hat, drängt sich bei vielen auf. Nach 1945 waren die Ziele „Freiheit“, „Frieden“ und „wirtschaftliche Entwicklung“ klar formuliert. Mittlerweile halten wir das für selbstverständlich. Aber das ist es nicht. Gerade die Probleme in den arabischen Staaten, aber auch die Ukraine-Krise zeigen, dass es keinesfalls selbstverständlich ist, in Frieden und Toleranz leben zu können. Wir haben uns in den letzten Jahren einen Lebensraum mit vielen Chancen und Möglichkeiten erschaffen, den es zu bewahren gilt.
Besonders die Flüchtlingskrise hat die Europäische Union vor große Herausforderungen gestellt, die wir nun lösen müssen. Einen ersten Schritt haben wir mit der Stärkung unserer Außengrenzen getan. Mehr Personal, bessere Ausrüstung und mehr Verantwortung soll dem neuen Grenz- und Küstenschutz das nötige Werkzeug an die Hand geben um unsere Grenzen besser zu schützen. Die Europäische Union ist tolerant und offen, aber wir müssen angesichts der Flüchtlingskrise neue Wege gehen. Es gebietet unser christliches Menschenbild, dass wir den Menschen Schutz bieten, die vor Gewalt und Krieg in ihren Ländern fliehen müssen. Gleichermaßen müssen wir Menschen, die aus rein wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen wollen, deutlich machen, dass sich der Weg nicht lohnt. Vor allem aber brauchen wir Gewissheit darüber, wer die Europäische Union betritt. Eine Registrierung jedes Einzelnen ist zwingend notwendig. Auch dazu leistet die neue Agentur für Grenz- und Küstenschutz eine zentrale Rolle. Ebenso werden Menschenhändler und Schlepperbanden systematisch verfolgt.
Schritt für Schritt werden wir mit weiteren konkreten Ansätzen die Probleme angehen, damit eine Europäische Union im Sinne der Gründungsgedanken weiterhin Chancen hat. Dafür aber benötigt es Zeit. Europäische Herausforderungen können und dürfen nicht im Hauruck-Verfahren gelöst werden. Dazu bedarf es auch der Unterstützung und der Geduld der Bürgerinnen und Bürger.
Rainer Wieland (1957) ist seit 1997 Abgeordneter und seit 2009 Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Er gehört u.a. dem Ausschuss für konstitutionelle Fragen sowie dem Entwicklungsausschuss an. Er ist Vorsitzender des CDU-Kreisverbands Ludwigsburg und Präsident der überparteilichen Europa-Union Deutschlands (EUD).