ESTNISCHE ERFAHRUNGEN

Heinz Neubauer beschreibt die besondere Rolle von Estland auch mit dem großen Nachbarn Russland und fragt, was Deutschland daraus lernen kann.

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Heinz Neubauer

Estnische Erfahrungen
Ein Vorbild für Deutschland ?

1. Was macht Estland besonders?

Ein großer Fehler für einen Deutschen besteht darin, Estland nur als Teil des Baltikums zu betrachten. Sicher ist Estland einer der drei baltischen Staaten, aber geographisch und ethnologisch ist Estland ein Teil Skandinaviens. Als der skandinavische Gletscher der letzten Eiszeit sich zurückzog, wurde das Territorium Estlands von urali­schen bzw. finno-ugrischen Siedlern entdeckt. Diese wanderten vom Rande des Gebirges Ural immer weiter nach Nordwesten, als es nach der letzten Eiszeit neue Jagd- und Weidegründe zu nutzen galt. Sie zogen, bis sie an das (estnische) ‚Westmeer‘ stießen, das ‚mare Balticum‘, welches im Deutschen ‚Ostsee‘ heißt.

Spätestens seit dem 19.Jahrhundert werden Spuren von Siedlungsgebieten und damit zusammen-hängende Wan­derungsbewegungen auch die die „nationale/nationalistische Brille“ betrachtet. Auch weil die Postulate von ‚kul­tureller Überlegenheit‘ an den tatsächlichen oder den vermeintlichen Spuren fest gemacht werden. – Stellt sich die Frage: Wer waren also diese Uralier? Sprachgeschichtlich unterteilen sich die indoeuropäischen Sprachen in die großen Sprachräume des Sanskrit(Indi­en), des Iranischen(Persien) sowie in Europa des Slawischen, des Romani­schen und des Germanischen. Daneben existiert als Kleinere die baltische Sprachgruppe mit im Wesentlichen dem Litauischen, dem Lettischen, dem Alt-Preußischen („Pruzzisch“) und dem Kurischen. Immer mehr ‚kleinere Sprachgruppen‘ wurden über die Jahrhun­derte assimiliert und starben aus.

Die uralischen („finno-ugrischen“) Volksgruppen und deren Sprachen gehören hingegen nicht zu den indoeuro­päischen Sprachen: neben der ungarischen Sprache gehören hierzu eine ganze Gruppe von ostsee-finnischen Spra­chen, abgegrenzt zu den samischen Sprachen in Nordeuropa und den samojedische Sprachen in Sibirien. Zu den ostsee-finnischen Sprachen zählen Finnisch, Karelisch, Wepsisch, Ingrisch, Estnisch, Wotisch und Livisch. – In­sofern sind somit (eher geographische) Berührungspunkte, aber auch (eher kulturelle) Unterschiede umrissen.

Die Sprachgruppen der uralischen Völker im zaristischen Russland wurden im Zeitalter des Panslawismus (ab ca. 1860) alle ebenso wie das Polnische und das Ukrainische mehr oder weniger administrativ unterdrückt; dagegen formierte sich kulturell zentrierter Widerstand vor allem der Nichtslawen, also im Großherzogtum Finnland, im Ostsee-Gouvernement und im Raum St.Petersburg . Überall sollten die russische Sprache (und die russisch-ortho­doxe Religion) dominieren. Während das Großherzogtum Finnland mit schwedisch, finnisch und karelisch spre­chender Bevölkerung staatsrechtlich unabhängig von Russland war, galt dies im Ostsee-Gouvernement und im Raum St.Petersburg nicht. Deshalb regte sich hier wie auch in Finnland aktiver, kulturell motivierter Widerstand, auch weil seit schwedischen Zeiten die Bevölkerung evangelisch-lutherischen Bekenntnis war. Es galt schon seit mehr als zweihundert Jahren: Die Esten ebenso wie die Finnen waren und sind sehr Kultur-bewusst. – Das kann man sich heute in Deutschland trotz aller Unterschiede zwischen Friesen und Bayern nur unvollständig vorstellen.

Alles zusammen waren aber diese Politik der ‚Russifizierung‘ beginnend vor 150 Jahren der Auslöser für den est­nischen Freiheitkampf 1917/20, der mit der Anerkennung im Frieden von Dorpat (2.Februar 1920) endete und in dem die Sowjetunion Estland als unabhängiger Staat anerkannte. Damit hatten die Esten jedwede Fremdherrschaft abgeschüttelt, wie viele europäische Nationen in dieser Zeit.

2. Woher kommt der estnische Freiheitswille?

Nach dem „Großen Nordischen Krieg“ (1700 – 1721), in dem es um die Vorherrschaft im Ostsee-raum ging, hatte das Königreich Schweden seine dominierende Stellung verloren und Zar Peter I. den russischen Einfluss an der Ostküste der Ostsee etabliert. Äußeres Zeichen ist die Gründung von St.Petersburg in den Sümpfen am Ostrand der Ostsee, durchflossen vom Fluss Newa. Dieser weitgehende eisfreie Hafen sollte zum Tor eines modernen Russlands nach Europa werden und verdeutlichen, dass die alten Handelsbeziehungen der (Wikinger/Waräger und später der) Hanse über die Ostsee bis zum Schwarzen Meer künftig russisch kontrolliert werden.

Damit begann die verstärkt russische Besiedelung der Gegenden im Nordosten Europas, in der die dünne regiona­le Bevölkerung im 18.Jahrhundert uralische Sprachen sprach: Karelisch (nördlich der Newa bis zum Ladogasee und darüber hinaus), Wepsisch südlich der Newa sowie Ingrisch/ Ischorisch und Wotisch (westlich von St.Peters­burg bis östlich des Flusses Narva). – Staatsrechtlich eigenständig blieb unter der Krone des Zaren das Großher­zogtum Finnland (mit karelisch, finnisch und schwedisch sprechender Bevölkerung), teilautonom das russische Ostsee-Gouvernement (mit Balten-deutsch, estnisch und livisch sprechender Bevölkerung), beide mit eigenem Landtag und eigener Rechtsprechung.

Der „ostsee-finnische“ Kulturkampf gegen das aus St.Petersburg geförderte russische Sprach-monopol in Schule und Kirche wurde beginnend in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts auf vielfältige Weise geführt. In Estland seien der Gottesdienst in den evangelisch-lutherischen Kirchen in estnischer Sprache (erste Bibelübersetzung der Lutherbibel 1686) sowie die (fast flächen-deckenden) regionalen Kulturvereine genannt, die das estnische Liedgut pflegten und die estnisch geprägten Sitten und Gebräuche (Tracht, Feiertage etc.) tradierten. Verstärkend zählen auch die von den deutschen Universitäten übernommenen estnischen Studentenverbindungen dazu, in Tartu (Uni­versität Dorpat) zum „estnischen Erwachen“. Aus diesen Studenten sollten sich 1919 viele Offiziere der estni­schen Freiheitskämpfer rekrutieren. Spätestens seit 1893 sollte ja die deutsche Sprache an der Universität Dorpat allein durch das Russische ersetzt werden. Dorpat sollte durch Erlass des Zaren in Jurjew unbenannt werden, ein Bruch also zur Jahrhunderte alten akademischen Tradition, bekannt in ganz Europa. Rund um den Finnischen Meerbusen kann man im 19.Jahrhundert diesen mehr oder weniger ausgeprägten Freiheitswillen nachweisen, die Finnen und die Esten mussten auch mit ansehen, wie die kleineren Volksgruppen wie der Ingrier unterlagen und „erfolgreich russifiziert“ wurden.

Spätestens nach der (ersten) russischen Revolution und dem „Blutsonntag“ 1905 in Folge des vom zaristischen Russland verlorenen Russisch-Japanischen Krieges begann es, auch in den westlichen Gouvernements „zu gären“. Hierzu gehören bald auch finnische und estnische Aktivisten, die nicht nur zuhause, sondern auch in Stockholm und in Berlin zur Vorbereitung von einer nationalen Erhebung zur „Befreiung vom russischen Joch“ agitierten.

Mit dem Beginn des ersten Weltkrieges beschloss daher am 27.Oktober 1914 in Helsinki im ‚Studentenhaus Ostrobothnia‘ das „Provisorische Zentralkomitee der Aktivistischen Bewegung“ einen Drei-Punkte-Plan. Der For­derungskatalog besteht aus (1.) Nachrichten aus Finnland in Deutschland zu verbreiten, (2.) russische Truppenbe­wegungen nach Deutschland zu melden und so eine Landung deutscher Truppen in Finnland zu ermöglichen so­wie (3.) die Erhebung des finnischen Volkes durch Waffengewalt vorzubereiten. So wird das Komitee zur Keim­zelle der Finnischen Jägerbewegung. Einige Monate später begann die militärische Ausbildung von 200 finni­schen und einigen estnischen Freiwilligen im Lager Hohenlockstedt (bei Itzehoe/ Schleswig-Holstein) im Rahmen des König­lich-Preußischen Jäger-Bataillon Nr. 27. Dieses kämpfte 1916/18 an der deutschen Ostfront. Am 6.De­zember 1917 beschloss der finnische Landtag die Unabhängigkeit Finnlands. Der finnische Oberbefehlshaber Marschall Mannerheim gliederte die Masse des Jägerbataillons in die „Weiße Garde“ ein, viele Freiwilligen kämpften 1919/22 in Karelien gegen die „Rote Garde“ – die spätere Rote Armee – für die Unabhängigkeit Finn­lands.

Am 24.Februar 1918 wird in Tallinn auf der finnischen Gegenküste die Republik Estland ausgerufen und in dem estnischen Freiheitskrieg 1918/20 gegen russische Vorstöße verteidigt. Dabei helfen finnische Freiwillige den est­nischen Truppen und Milizen (‚Kaitseliit‘) gegen die Rote Armee. Diese Gründungserfahrungen prägen heute das estnische Selbstbewusstsein und die aufmerksame Verfolgung aller strategisch-politischen Entwicklung im östli­chen Nachbarland Russland. Zugleich erklären sie die tiefe Verbundenheit mit den Finnen und Kareliern.

3. Warum schätzen Esten „die langen Linien“ in ihrer Geschichte?

Die Verteidigung der estnischen Kultur sowie die Gewinnung der staatlichen Unabhängigkeit war ein jahrzehnte­langer Prozess, der in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert begann, mit dem Frieden von Tartu (2.Februar 1920) seinen Abschluss gefunden zu haben schien. Doch bereits mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 wurde wieder alles zu Disposition gestellt. Das frei gewählte estnische Parlament, der Staatspräsident und die Regierung gingen ins Exil. – Erst mit dem „europäischen Tauwetter“ und dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 begann für die Esten die Rückkehr zur freiheitlichen Normalität. Mancher Beobachter spricht von „der singenden Revolution“, weil der Zerfall der Sowjetunion und die Wiedergewinnung der Freiheit in Estland ohne Blutvergießen, aber mit vielen öf­fentlichen Gesängen bei Demonstrationen einherging. Noch heute ist das jährliche Sängerfest in Tallinn mit mehr als 100.000 Teilnehmern ein Zeichen der Freiheit und Souveränität. Sicherheitshalber löste sich das Exilparlament erst 1992 auf, nach dem Abzug aller ehemaliger Sowjet-, (nun) russischen Streitkräfte. Da war historisch begrün­dete Skepsis ein Ratgeber zur Vorsicht, denn das heutige Russland bleibt weiterhin der große östliche Nachbar. Und solange die eigene Unabhängigkeit nicht bedroht wird, erfreut sich Estland seiner Freiheit und will mit allen Nachbarn in Frieden leben.

Insoweit zählen aus politischer, staatsrechtlicher und zivil-gesellschaftlicher Sicht in Estland vor allem die Konti­nuitäten seit der Unabhängigkeit 1918, weniger oder gar nicht die „Frostperiode“ zwischen 1939/40 und 1990. Er­klärlich ist angesichts der estnischen Entwicklung in den letzten 150 Jahren auch, dass die Melodie der finni­schen wie der estnischen Nationalhymne gleich ist, natürlich mit individuellem Text in der jeweiligen Landesspra­che. Auch die heutige estnische Nationalflagge geht auf den Vorschlag einer Studentenverbindung in Tartu zurück.

Völlig verständlich war der souveräne Wunsch der Republik Estland bald nach 1990, möglichst schnell der NATO und der EU beizutreten, auch weil die Unabhängigkeit zunächst nur von 1918 bis 1940 währte. Das sollte sich nicht wiederholen. Vielmehr versuchen die estnischen Politiker mit Unterstützung der Gesellschaft als “guten Europäer“ zu positionieren, eine Nation, die allen Anforderungen der NATO, der EU und des Eu­ro-Raums ge­recht wird, um zum einen keine Anfechtung zu bieten, aber zum anderen als ‚Gleicher unter Gleichen‘ anerkannt und gehört zu werden. Umgekehrt erwartet Estland von seinen Partnern und Verbündeten Standfestig­keit, eine klare Sprache und – je nach Möglichkeit – Einsatz, Einsatz von Einfluss, Ressourcen und Willen zur Kooperation. Das (kleine) Estland geht seinen Weg. Das könnte auch für ein demokratisches und liberales Russ­land gelten.

4. Was kann Deutschland von Estland lernen? – Drei Thesen:

Erstens: Deutschland sollte sich seiner Bedeutung in der Mitte Europas noch bewusster werden und mit dieser Verantwortung souverän und unaufgeregt umgehen, Ankündigungen wahr machen und getreu seiner zugesagten Verpflichtungen handeln. „German Angst“, durch Twitter rasch zu befeuernde Empörungswellen und die Aus­richtung am kurzfristigen medialem Erfolg sind schlechte Ratgeber. Eher zählen historisches Be­wusstsein, strin­gente Vertretung der eigenen Interessen und der standfeste Dialog mit Nachbarn, Freunden und (zeitweiligen?) Gegnern. Dabei bleibt auch Russland ein großer Nachbar in Europa – oder mit Helmut Kohl „im Haus Europa“.

Zweitens: patriotisch geprägtes Selbstbewusstsein hilft beim unaufgeregtem Dialog, auch über schwierige Erfah­rungen und Zeitläufte hinweg (Stichworte wären Umsiedelung der balten-deutschen Familien nach dem Hitler-Stalin-Pakt oder die estnischen Waffen-SS-Divisionen), wenn sich Gesprächspartner auf die Argumente der Ge­genseite einlassen wollen. Nicht der fein ziselierte, wo möglich vorweggenommene Kompromiss, der Gräben und Risse in der öffentlichen Diskussion verklebt, hilft, vor allem wenn er eher verunklart, sondern das gegenseitige Hineinfühlen in den Gesprächspartner bei dennoch respektvollem Umgang fördert das gegenseitige Verständnis. So kann sich Vertrauen entwickeln. Hierzu gehört auch der selbstverständliche Umgang mit den eigenen nationa­len Symbolen, die in ganz Estland eher großzügig und stolz gezeigt werden. Da könnte ein unaufgeregtes Deutschland von seinen Partnern nur lernen.

Drittens: Außen- und Sicherheitspolitik in Estland ist in den Medien und bei der Bevölkerung unmittelbar und spürbar aktuell, auch weil man dort potentielle Risiken ständig verfolgt. Jederzeit bereit sein, um auf eine neue Herausforderung zu reagieren. Da ist ‚contingency planning‘ eine aufmerksam beobachtete politische Daueraufga­be. – Ob das für Deutschland ähnlich gilt? Oder dominieren bei uns Innen- und Sozialpolitik hier so sehr, dass richtige Gefahren und deren Bewältigung den Spezialisten überlassen bleiben?

Dr.rer.pol. Heinz Neubauer (1957), Dipl.-Wirtschaftsingenieur (TH Karlsruhe) und Master of Science (GaTech, Atlanta), Promotion in Betriebswirtschafts­lehre (Universität Mannheim). Als Oberst der Reserve Logistik-Stabsoffizier in der Bundeswehr – seit 2002 eingeplant im Einsatzführungskom­mando der Bundeswehr, seit 2014 im Auftrag des BMVg dreimaliger Beratungseinsatz bei den estnischen Streit­kräften. Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V. Bonn/Berlin.

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