DIGITAL IM REALEN LEBEN

Stephan Eisel beschreibt die Grenzen des Internets als Voraussetzung für dessen verantwortliche Nutzung und warnt davor, das reale Leben dem Digitalen unterzuordnen.

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Stephan Eisel

Digital im realen Leben

„Digitalisierung“ ist das neue Zauberwort der Zeit und gilt vielen als Allheilmittel. Ohne Zweifel bieten die Möglichkeiten des Internets viele Erleichterungen im Alltag, öffnen neue Dimensionen und verändern auch unser Leben.

Wie schnell aber die digitale Brille aber den Blick auf die reale Welt verfälschen kann, hat zuletzt die Organisation der Impfkampagne offengelegt: Man hatte diejenigen nicht mehr im Blick, die keine teuren Smartphones besitzen und sich nicht täglich mehrere Stunden von Homepage zu Homepage hangeln. Die so intensiv beworbene Corona-App wurde gerade einmal 25,8 Mio mal heruntergeladen – also von weniger der Hälfte der ca. 61 Mio Smart-Phone-Nutzern in Deutschland. 14 Prozent der über 14-Jährigen besitzen kein Smartphone, bei den über 60-Jährigen sind es sogar mehr als ein Drittel über diesen Kommunikationsweg nicht erreichbar.

Die Sparkasse KölnBonn gibt an, dass sich ein Drittel ihrer 800.000 Privatkunden nicht für online-Banking registriert hat. Bei der Aufstellung des Bundestagskandidaten haben in der Bonner CDU etwa hundert Mitglieder an virtuellen Vorstellungsrunden teil, zur unter strengsten Corona-Vorschriften organisierten Präsenzveranstaltung kamen 250 Teilnehmer, ohne die Corona-Angst wäre es sicher noch mehr gewesen.

Die Reichweitengrenzen der digitalen Welt haben ihre Ursache keineswegs nur in der Generationenfrage oder den teilweise unzulänglichen technischen Voraussetzungen. Es wird zu oft übersehen, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen denjenigen, denen als „Bildschirmarbeiter“ auch am Arbeitsplatz ein ständiger Netzzugang zur Verfügung steht, und denjenigen, die darauf nur in ihrer Freizeit Zugriff haben. Wo ein Internetzugang zum Arbeitsplatz gehört, ist die tägliche Internetnutzung de facto vorgegeben.  Wer seinen Alltag in der „Bürowelt“ verbringt, hat es in der Internetwelt leichter als jemand, der im Handwerk, dem produzierenden Gewerbe oder dem Dienstleistungssektor arbeitet. Diese Menschen müssen entscheiden, welchen Anteil ihrer freien Zeit sie im Netz verbringen wollen. Das ist das Reale oft wichtiger als das Digitale.

Anders ausgedrückt: Das Internet wird von einer Minderheit der Zeitreichen dominiert, die diesem Medium ihre volle Aufmerksamkeit widmen wollen und können und die finanzielle oder zeitliche Disposition dafür haben. Von den in Deutschland lebenden über 14-Jährigen nutzen nach dem Digital-Index 2019 der Initiative D21 und der ARD/ZDF-Online-Studie 2020, die bereits die Corona-Daten berücksichtigt, nur 72 Prozent das Internet täglich, davon die allermeisten nur für wenige Funktionen:  Messenger-Dienste wie WhatsApp nutzen 68 Prozent täglich, mediale Streaming-Angebote wie Mediatheken oder Netflix 50 Prozent, Suchmaschinen wie Google 45 Prozent, e-mails 33 Prozent und Soziale Netzwerke wie Facebook insgesamt 25 Prozent.

Der Digital-Index 2019 stuft nur 44 Prozent der Wohnbevölkerung über 14 Jahre als „digitale Vorreiter“ ein, also als Menschen, die sich im Internet souverän bewegen. 38 Prozent sind „konservative Gelegenheitsnutzer und vorsichtige Pragmatiker“, 18 Prozent „digital Abseitsstehende“ (davon die meisten ausdrücklich „Offliner“). Die Mehrheit der Erwachsenen in Deutschland ist also bei weitem nicht so im Internet zu Hause wie die Meinungsbildner und Entscheidungsträger.

Gerade wer in der Politik Verantwortung trägt, muss diese Grenzen des Internets kennen, um seine Chancen nutzen zu können. Wer sich im digitalen Rausch verliert, vergisst schnell die Wirklichkeit des Lebens. Corona-Zeiten mit ihrer Tendenz zur Ausschließlichkeit des Digitalen haben den Blick darauf noch einmal fokussiert.

Politisch ausgedrückt muss zur Technikfasziniation die Demokratiekompetenz kommen. Ohne Zweifel hat das Internet auch die politische Kommunikation verändert. Aber so sehr das Internet für politisch Aktive und Interessierte neue Möglichkeiten öffnet, so sehr ist Politik für die Durchschnittsnutzer insgesamt ein Randgebiet. Es wird vor allem von denen genutzt, die in digitalen Echokammern nach der Bestätigung der eigenen Weltsicht suchen. Corona-Leugner sind dafür ein aktuelles radikales Beispiel. Andererseits sehen immer mehr Menschen das Netz auch als einen fruchtbaren Nährboden für Gerüchte, Verschwörungstheorien und „Fake News“. Sie sind glücklicherweise skeptischer gegenüber dem nur Digitalen geworden.

Wahlkämpfe sind ohne Aktivitäten im Netz zwar heute nicht mehr vorstellbar, aber zugleich landet in einer Sackgasse wer glaubt, sie würden dort entschieden. Wo Wahlen in Lockdown-Zeiten fallen, bleiben wenig Alternativen, aber diese haben umso größeres Gewicht. Auch für die Zeit danach bleibt die Frage: Stehen Aufwand und Nutzen der Netzaktivitäten im richtigen Verhältnis – beispielsweise auch im Vergleich nur analogen Ansprache durch Hausbesuche? Es sollte auch nicht vergessen werden, dass ein Brief für die allermeisten Menschen mehr Gewicht hat als eine e-mail.

Vor allem aber verdrängen die bildorientierten Mechanismen „sozialer“ Netzwerke eine Eigenschaft, auf die es im Leben und auch in der Politik vor allem ankommen sollte: Kompetenz und Charakter. Das Netz fokussiert auf die Verpackung, wo doch der Inhalt entscheidend sein sollte.  Auf der großen Bühne haben Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel bewiesen, wie wichtig dieser Grundsatz ist: Sie wurden nicht für die Art ihrer Präsentation gewählt, sondern für das, wofür sie stehen.

Modisch ist in der digitalen Welt auch die Oberflächlichkeit der Kürze um ihrer selbst willen. Der schnelle Klick ist zwar die gültige Währung im Netz, aber wer sie in den politischen Diskurs überträgt, gefährdet das ein Grundprinzip der liberalen Demokratie: Argumente brauchen Zeit. Die Reifezeit für vernünftige Entscheidungen, deren Voraussetzung das sorgfältige Abwägen von Pro und Contra ist, muss gegen die Faszination einer sich ständig beschleunigenden Netzgeschwindigkeit verteidigt werden.

Weil es ein ebenso faszinierendes wie ambivalentes Medium ist, muss man die Grenzen des Internets kennen, um seine Möglichkeiten sinnvoll nutzen können. Dazu gehört es, das Netz im Blick zu haben, aber sich nicht darauf zu fixieren. Eine Ausschließlichkeit des Digitalen ist von der Abgabe der Steuererklärung über das Homeschooling bis zur Vergabe von Impfterminen für viele diskriminierend. Digitalisierung ist nicht der Zugang zum realen Leben, sondern muss in dessen Dienst gestellt werden. Mitten im Leben zu stehen, heisst das Digitale dem Analogen unterzuordnen, es zu nutzen, aber nicht zur Bestimmung werden zu lassen.

 

Dr. Stephan Eisel (1955) hat Politik- und Musikwissenschaft sowie Neuere Geschichte in Marburg und Bonn studiert, war 1981/82 Bundesvorsitzender des Rings christlich-demokratischer Studenten (RCDS), 1983- 1992 zunächst als Redenschreiber und dann als stv. Leiter des Kanzlerbüros Mitarbeiter von Helmut Kohl und 2007 – 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. In der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte er verschiedene Leitungsfunktionen inne. Er ist Autor der Bücher „Internet und Demokratie“, „Musik und Politik“, „Helmut Kohl – Nahaufnahme“ und „Beethoven – die 22 Bonner Jahre“ und Chefredakteur des Blogs für politisches Handeln aus christlicher Ver­antwortung kreuz-und -quer.de.

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