DAS VERGRABENE TALENT

Barbara und Michael Mertes  beschreiben, weshalb die kath. Kirche unter ihren Möglichkeiten bleibt, wenn sie die Talente der Laien nicht intensiver nutzt, halten die Idee des „Gesundschrumpfens“ für falsch und warnen davor, dass eine Überdehnung der Distanz zwischen dem „Priestertum des Dienstes“ und dem „gemeinsamen Priestertum der Gläubigen“ das eine Gottesvolk zu zerreißen droht.

Den folgenden Beitrag können Sie hier ausdrucken.

Barbara und Michael Mertes

Das vergrabene Talent

Weshalb die kath. Kirche unter ihren Möglichkeiten bleibt

Die folgenden Überlegungen sind nicht am Schreibtisch entstanden. Sie kommen aus unserer Alltagserfahrung als Eltern und Großeltern, als Lektoren und Kommunionhelfer. Sie sind die Frucht vieler Gespräche im Kreis der Freunde und Nachbarn über Glaubensfragen und über die Situation der Katholischen Kirche. Wenn wir Kritik üben, dann aus tiefer Verbundenheit mit der Kirche. Was einem egal ist, überlässt man seinem Schicksal. Uns liegt die Kirche am Herzen. Deshalb möchten wir sie stärken.

Ein entscheidender Punkt für die Zukunft der Kirche ist die „Absage an das Notnagelprinzip“. Die Aufgabe von Laien beschränkt sich nicht darauf, Löcher zu stopfen, die durch Klerikerschwund entstanden sind. Vielmehr sind sie tragende Säulen, ohne die das Gebäude „Katholische Kirche“ einstürzen würde.

Wenn wir heute auf unsere Kirche blicken, so erleben wir, wie sie ihre Talente vergräbt:

Da ist, erstens, die Angst vieler Kleriker vor dem Statusverlust, wenn der traditionelle Abstand zwischen Geweihten und Nichtgeweihten sich verringern sollte.

Zweitens: Große Teile des Klerus haben zu wenig Vertrauen in die seelsorgliche, liturgische und theologische Kompetenz von Laien. Umgekehrt hat das Vertrauen der Laien in den Klerus in jüngster Zeit dramatisch gelitten.

Drittens: Viele befürchten eine Spaltung der Kirche, wenn auf traditionelle Befindlichkeiten keine Rücksicht genommen wird.

Viertens: Nicht-eucharistische Formen von Christuspräsenz werden unterbewertet. Mit diesen Formen meinen wir: Hören auf Gottes Wort, Diakonie und spirituelles Miteinander. Auch ohne Gegenwart eines Priesters kann die Gemeinde den „ersten Tag der Woche“ als den Tag der Auferstehung begehen und die Erfahrung der Gegenwart Christi machen.

Fünftens: Es gibt den Wunsch mancher Kleriker und Laien, sich durch ein „Weiter so“ – oder gar einen Rückzug nach innen – der anspruchsvollen und anstrengenden Auseinandersetzung mit einer sich immer schneller verändernden Welt zu entziehen.

 

Dabei hat die Kirche einen reichen Schatz an Talenten, den sie nutzen könnte:

Erstens: Da zunächst einmal das Evangelium selbst, das uns allen – Geweihten und Ungeweihten – gegeben und zugänglich ist. Vorhandene oder geplante kirchliche Strukturen müssen sich daran messen lassen, ob sie die Verkündigung des Evangeliums behindern oder fördern.

Zweitens: Wenn wir die Kirche stärker vom Kirchenvolk her denken, werden wir eine Fülle von Begabungen und Erfahrungen entdecken und fruchtbar einsetzen.

Drittens: Ehrenamtliche Initiativen, die „von unten“ her wachsen, müssen zugelassen und ermutigt werden. Das ist auch eine Frage des Vertrauens der Pfarrei- und Bistumsleitungen gegenüber den Gemeindemitgliedern.

Zur Nutzung der vorhandenen Talente gibt eine Fülle von erprobten Beispielen wie

  • Familien-Wortgottesdienste unter Leitung von Eltern,
  • sonntägliche Wortgottesfeiern unter Leitung von Laien,
  • Trauer- und Beisetzungsfeiern unter Leitung von Laien oder
  • Leitung von Pfarrgemeinden durch Nicht-Kleriker.

Übrigens: Wenn wir von „Laien“ sprechen, dann meinen wir damit sowohl Hauptamtliche auch Ehrenamtliche. Wir möchten nicht, dass sich die Hauptamtlichen zu einer Art „Quasi-Klerus“ entwickeln, denen die Ehrenamtlichen lediglich als Hilfsarbeiter zur Verfügung stehen.

Dann gibt es viele Dinge, die neu zu regeln sind. Im Zentrum steht die Zukunft von Diakonat und Priestertum. Dazu gehört nicht nur die Öffnung dieser Ämter für Frauen und Verheiratete, sondern auch die Frage, wie man den Eigenwert des Diakonats stärker betonen kann und ob man künftig die Option des „Priesters im Zivilberuf“ zulassen möchte.

Die 1964 vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedete Dogmatische Konstitution Lumen Gentium sagt sehr deutlich, dass es nur ein Gottesvolk gibt (I.4) – also keine Kluft zwischen Patriziern und Plebejern wie im alten Rom. Zwar betont Lumen Gentium (II.10) ebenso deutlich, dass das „gemeinsame Priestertum der Gläubigen“ und das hierarchische „Priestertum des Dienstes“ sich „dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach“ unterscheiden. Aber es fügt sogleich hinzu, beide seien „einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil“.

Die Überdehnung der Distanz zwischen dem „Priestertum des Dienstes“ und dem „gemeinsamen Priestertum der Gläubigen“ droht das eine Gottesvolk zu zerreißen. Sie bedroht die Statik des Ganzen. Administrative Stützkonstruktionen sollen den Einsturz des rissigen Bauwerks verhindern. Elementare Vorgänge christlicher Existenz werden nicht mehr spontan und informell gesteuert, sondern starren Regulierungen unterworfen. Wir denken da ganz konkret zum Beispiel an unflexible Terminvorschriften für Taufen oder Beisetzungen, wie wir sie selbst erlebt haben.

Neuerdings werfen die Verteidiger der traditionellen Klerikerkirche ihren Kritikern vor, sie beschäftigten sich zu sehr mit Strukturfragen und vernachlässigten infolgedessen den Primat der Evangelisierung. Doch wenn und soweit Strukturen der traditionellen Klerikerkirche der Botschaft Jesu zuwiderlaufen oder die Verbreitung dieser Botschaft behindern, dann gebietet das Evangelium geradezu, den schädlichen Status quo zu überwinden!

Glaube und Vertrauen hängen untrennbar miteinander zusammen. Eine Kirche, der die Menschen nicht mehr vertrauen, weil ihre Anfälligkeit für Machtmissbrauch offenkundig ist, kann ihrem Auftrag zur Glaubensverkündigung nicht gerecht werden.

Im Übrigen lässt sich trefflich darüber streiten, ob es wirklich nur um Strukturen geht, wenn die Forderung nach mehr Verantwortung der Laien in Seelsorge und Liturgie oder nach einem Ende der Ungleichbehandlung von Frauen in der Kirche erhoben wird. Sind das nicht auch und vor allem Glaubensfragen?

Von den Verteidigern der traditionellen Klerikerkirche ist immer wieder zu hören, den Laien gehe es in Wahrheit bloß um die eigene Macht; der Klerus selbst habe doch gar keine Macht, sondern lediglich eine Vollmacht. Das ist ein semantischer Taschenspielertrick. Was wir derzeit in Köln (und anderswo) erleben, ist ein System vertikal organisierter Verantwortungslosigkeit. In diesem System sucht man die Fehler nie bei sich selbst, sondern immer nur bei anderen:

  • bei der bösen Welt,
  • bei den angeblich feindseligen Medien,
  • bei schlechten Ratgebern,
  • beim angeblich untreuen Kirchenvolk.

Um es drastisch zu formulieren: Die gegenwärtige Krise der katholischen Kirche ist keine Schafskrise, sondern eine Hirtenkrise.

Was viele Laien – auch uns – verärgert, ist die Unfähigkeit führender Kirchenmänner, einen ganz schlichten Satz auszusprechen: „Ich übernehme die Verantwortung.“ Wir wollen nicht mehr hören, dass im Grunde genommen wir alle doch arme Sünder sind. Man kann nicht einen herausgehobenen Platz für sich beanspruchen, um dann, wenn es passt, in der anonymen Menge unterzutauchen. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Von uns Laien erwartet man zu Recht, dass wir die Verantwortung für eigene Fehler übernehmen. Deshalb erwarten wir Laien, dass die Kirchenleitung selbst sich an diesen Grundsatz hält.

Weihe schützt nicht vor Machtmissbrauch. Im Gegenteil: Wenn sie dazu führt, dass Kleriker sich ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Kirchenvolk entziehen dürfen, dann öffnet sie dem Machtmissbrauch Tür und Tor.

Wir wollen keine Auflösung institutioneller Kirchlichkeit, sondern deren Weiterentwicklung im Sinne des Evangeliums. Damit die Institution funktionsfähig bleibt, muss aber die Balance zwischen organisierter Verbindlichkeit, pfingstlicher Spontaneität und seelsorglicher Situationsgerechtigkeit immer wieder neu gefunden werden.

Die Kirche muss atmen; das kann sie weder im Zustand der Überregulierung noch im Zustand der Anarchie. Die Kirche braucht sowohl das Bewusstsein weltumspannender Gemeinschaft als auch das konkrete Miteinander von Menschen aus Fleisch und Blut.

Unser Modell von Kirchlichkeit wird oft als „Volkskirche“ bezeichnet. Wir sind uns darüber im Klaren, dass abgelebte und abgestorbene Teile dieses Modells nicht erhalten oder wiedererweckt werden können. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass der Kern des Modells „Volkskirche“, nämlich die Verankerung der Kirche in der konkreten Lebenswelt der Menschen, zur Substanz, zur Geschichte und zur Wirklichkeit des Christlichen gehört.

Die lokalen Kirchen, Kapellen und Gemeinderäume gehören jedenfalls nicht dem Bischof, der darüber wie ein absoluter Monarch nach freiem Gutdünken verfügen kann. Vielmehr sind sie über Generationen durch Kirchensteuern, Spenden und – im ländlichen Raum – oft auch durch Eigenarbeit vom Gottesvolk finanziert und erbaut worden.

Hier geht es auch um ein Gebot des katholischen Subsidiaritätsprinzips. Wir zitieren aus der Enzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI.: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“

Wir brauchen auch in unserer Kirche keine Angst vor Vielfalt zu haben, solange wir uns einig sind in dem Bekenntnis, dass der auferstandene Christus unser gemeinsames Zentrum bildet.

  

Michael Mertes (1953) ist Autor und literarischer Übersetzer. Von 2011 bis 2014 leitete er das Auslandsbüro Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Jerusalem.

Barbara Rembser-Mertes (1954) ist Lehrerin und gehört dem Vorstand der Katholischen Elternschaft Deutschlands (KED) an.

Zu den pastoralen Zukunftsfragen der Katholischen Kirche haben beide Autoren 2020 das Buch „Von der Volkskirche zur Sekte? Warum die Idee vom Gesundschrumpfen falsch ist“ (Bonifatius Verlag, Paderborn) herausgegeben.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert