VOM WERT DES DIALEKTS

Hans Maier sieht im Dialekt die Menschen „bei sich“  und  plädiert dafür, dass das Sprechen, wie einem der Schnabel gewachsen ist,  ein Vergnügen für alle Tage, ein Genuss ohne Reue sein sollte.

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Hans Maier

Vom Wert des Dialekts

Im Alltag begegnet uns Sprache in doppelter Gestalt: als geläufige Sprech-Sprache, in der wir uns ausdrücken, „wie uns der Schnabel gewachsen ist“ – und als entwickelte, in Regeln gefasste Schrift-Sprache, die gewissermaßen öffentlichen, amtlichen Charakter hat. Die erste Sprache geht von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr – die zweite als geschriebene oder gedruckte von Blatt zu Blatt (oder heute: von einem elektronischen Datenträger zum andern). Die eine ist vor allem Laut, Tonfall, Klangfärbung, etwas Hörbares also; die andere ist etwas Optisches, sie wird mit dem Auge aufgenommen und meist auf diese Weise, also sprachlos, tonlos, auch mitgeteilt – sie kann gelesen, muss aber nicht vorgelesen  werden; einer Umsetzung des geschriebenen Textes ins  Gesprochene, ins Hörbare  bedarf es nicht.

Reden und Schreiben, Sprechen und Schrift – das sind Grundformen der Verständigung unter Menschen. Sie können sich berühren, überschneiden, ineinander übergehen; aber prinzipiell sind sie getrennt. Wir alle machen ja immer wieder dieselbe Erfahrung: Es gibt Menschen, die ausgezeichnet reden, aber nur mühsam und unbeholfen Texte zuwege bringen – und das gleiche gilt umgekehrt. Den einen fällt der Übergang vom Sprechen in die Schrift schwer – den anderen macht es umgekehrt Mühe, etwas Geschriebenes so zu präsentieren, dass es  fesselt, mitreißt,  „klingt“ und nicht durch  „trocknen Ton“ ermüdet.

Nun wage ich die These, dass für viele Menschen Reden und Sprechen, also der mündliche Umgang mit Sprache, gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch des Dialekts. Im Dialekt sind die meisten „bei sich“, sie erzählen unbefangen drauflos, sie müssen sich keinen Ruck geben, keinen Anlauf nehmen, sich nicht feierlich „in Schale werfen“: sie reden einfach. – Um nun gleich den Protest der Hochsprachler aufzufangen, die gewiss behaupten werden, bei ihnen unterschieden sich mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch überhaupt nicht, sie redeten so, wie sie schrieben, und sie schrieben so, wie sie redeten, will ich hier das Wort Dialekt in einem weiten Sinn verstehen: ich verstehe darunter die gesprochene Umgangssprache – eine Sprache, die ja nahezu immer abweicht von der hochsprachlichen Norm. Auf einer Skala aufgezeichnet, begänne dann der Dialekt mit jenen lokalen und regionalen Färbungen, die sich von der normierten Bühnenaussprache nach Siebs charakteristisch abheben: man denke an das bayerische R oder an das langgezogene Hamburger A, an die Frontis-Erweichungen der Franken und Sachsen („Dankwart können Sie das Kind nicht nennen – das ist doch ein Beruf!“), an die  Lautverdumpfungen im Bayerischen, das Verschlucken von Vokalen im Schwäbischen, die Tonhöhen und Tonsequenzen,  an denen man mit gutem Ohr sofort den Badener, den Schwaben, den Rheinländer, den Mecklenburger, die Niedersachsen,  Hanseaten, Berliner, Schlesier und Böhmen erkennt. Am anderen Ende der Skala stünden dann die entwickelten, „elaborierten“ Dialekte: also die schwäbischen, fränkischen, bayerisch-österreichischen, hessischen, pfälzischen, rheinländischen, sächsischen, niederdeutschen Mundarten – Dialekte also, die im Unterschied zu bloßen Tonfärbungen über ein eigenes, vom Hochdeutschen unterschiedenes Vokabular verfügen, die man also nicht nur mündlich sprechen, sondern auch schriftlich fixieren kann (und übrigens auch fixieren muss, da sie über bloße Akzentuierungen und Färbungen weit hinausgehen). Der Dialekt weicht also als Phonem, als Klangerscheinung ab, als Lexem, d.h. in seiner Wortgestalt,  von der Duden-Norm – in jedem Fall: er weicht ab.

Fasst man Dialekt auf diese Weise, so spricht in Deutschland, zumal in Oberdeutschland, fast  jeder Mann und jede Frau Dialekt. Man prüfe sich nur einmal selbst: zumindest in der Wortfolge, im Auslassen oder Hinzufügen, in Ellipsen und Redundanzen, im Betonen oder Verschlucken und natürlich auch in der landschaftlichen Färbung und Tonhöhenbewegung unterscheidet sich das, was wir sagen, fast immer von dem, was wir schreiben. Eine Ausnahme von der Regel machen nur diejenigen, die sich in jeder Lebenslage in ihren schriftlichen wie mündlichen Äußerungen stets an den Siebs und an den Duden halten. Aber das dürfte keineswegs die Mehrheit, eher die Minderheit sein. Die Mehrheit behält in unserem Land beim Sprechen nicht nur ihre spezifische Mund-Art im Sinn der lokalen und regionalen Einfärbungen von Sprache  ei – sie  gebraucht darüber hinaus auch viele Dialekte im eigentlichen Sinn des Wortes und schämt sich dessen nicht. „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ – dieser  chnell berühmt gewordene baden-württembergische Spruch klingt nicht etwa demütig oder zerknirscht, sondern eher herausfordernd (mit einem kleinen Schuss Selbstironie!),  und das ist gut so.

Sprechen, wie einem der Schnabel gewachsen ist – das sollte etwas Selbstverständliches sein, ein Vergnügen für alle Tage, ein Genuss ohne Reue. Schließlich haben sich unzählige im Dialekt aufgewachsene Schulkinder – auch ich gehörte einst dazu – im Klassenzimmer genug anstrengen müssen, um mühsam jene erste Fremdsprache  u erlernen, die sich Hochdeutsch nennt. Warum „meim Vadder sei Hut“ eines Tages plötzlich „meines Vaters Hut“ heißen musste, das kommt mir heute noch als ein Mysterium vor. Damals wie heute gab und gibt es Lehrer, die meinen, sie müssten bei jungen Menschen alles wegretuschieren, was an die Kindheit, die gesprochene Sprache, das Elternhaus, die Umwelt erinnert. Glücklicherweise gab und gibt es auch andere, die wissen, dass sich im Dialekt ein Stück Herkunft, ein Stück unverwechselbarer Eigenheit verbirgt. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen ohne Bruch mit der Herkunft – das dürfte ja für viele, ja die meisten der heutigen Menschen ein Ideal, ein Leitstern sein. Dann aber gibt es keinen Grund, Dialekt und Hochdeutsch nicht gleichberechtigt nebeneinander bestehen und gelten zu lassen.

Für die verschlüsselten Botschaften des Dialekts sind wir in den letzten Jahren wieder empfänglicher geworden. Gerade was an Dialekten eigenartig, verspielt und manchmal skurril erscheint, anzüglich und boshaft, anspielungsreich und rätselhaft, das berührt und bewegt uns und fesselt unsere Fantasie. Dialekte sind ein großes Memento: sie erinnern  n die Vergangenheit, an ältere Sprachzustände – im Grunde an die ganze ältere europäische Welt vor dem Aufstieg der Nationen.  Sie verkörpern die alten Sprachen und Sprechweisen, die vor den neuen Nationalsprachen, den  ormierten Hochsprachen des modernen Europa liegen. Je gleichförmiger diese Hochsprachen heute werden im Zug  allgemeiner Mobilität und Angleichung der Lebensformen, desto mehr entdecken wir in den Dialekten die Gegenwelt, nämlich das Ungleiche und Unberechenbare, das Originelle und Unabgeschliffene, das Vielfältige und Vieldeutige.

So stünde also heute eine neue Konjunktur für Dialekte unmittelbar bevor? Nun, davon sehe ich im Augenblick noch nichts. Die gegenwärtige Zeit ist dem Dialekt nicht ohne weiteres günstig.  Viele Eigenheiten, viele Sonderbildungen lösen sich heute auf in einer allgemeinen Angleichung und Nivellierung. Das war noch anders in der ersten Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren: damals nahm man die Politik vor allem durch einzelne scharfgeprägte Persönlichkeiten wahr –  nd die sprachen nicht selten  unverfälschten Dialekt. Der rheinische Tonfall Adenauers, das Hanseatische von Brauer und Kaisen, das Berlinische von Ernst Reuter, das Schwäbische von  Gerstenmaier, Kiesinger, Reinhold Maier, Gebhard Müller – das gehörte damals zur öffentlichen Wahrnehmung von Politik. Es herrschte ja auch noch der Hörfunk, nicht das Fernsehen: Man hatte die Zeit, die Politik weniger im Auge als im Ohr.  Und nach dem großen  ündenfall des Dritten Reiches galt Hochdeutsch, gar ein stramm und schneidend  gesprochenes Preußisch, als anstößig und  belastet (worunter zum Beispiel ein Mann wie Kurt Schumacher ganz offenkundig  zu leiden hatte!). Man zog sich nach 1945 lieber in landschaftliche Idiome zurück – die galten als unanstößig, als unschuldig. Es war ein Vorteil für den aus Brackenheim stammenden Bundespräsidenten Theodor Heuss, dass man ihn, wenn man seine Stimme im Radio hörte, gelegentlich mit Willy Reichert verwechselte.

Kein Zweifel, der Gebrauch der Mundart geht heute zurück, seit Jahren schon, die Dialekte nehmen ab,  unser Sprachverhalten wird immer uniformer, die Sprechweisen gleichförmiger, der Sprachschatz kärglicher und austauschbarer. Eine Art Basic German entsteht – ein reduziertes, funktionales Gebrauchsdeutsch, unanstößig, aber fade, ohne Witz und Schärfe, ohne Überraschungen. Und wie viel Politiker gibt es noch, die einen Dialekt ebenso perfekt beherrschen wie eine Fremdsprache? Seit Helmut Schmidt und dem Freiherrn von Heeremann haben wir zum Beispiel keinen Mächtigen mehr Platt reden hören!

Aber gleichzeitig wächst bei vielen das Gefühl dafür, dass mit den Dialekten, kämen sie eines Tages gänzlich ausser Übung,  mehr zugrunde ginge  als nur ein liebenswürdiges Stück sprachlicher Folklore. Eine bundesweite Dialektforschung gibt es kaum. Sie hätte ganz elementare Fragen zu klären, über die wir bis heute in Deutschland so gut wie gar nichts wissen: 1. Wie viele Bundesbürger lernen zuerst Dialekt, wie viele zuerst Hochdeutsch?  2. Wer behält was und wie lange?  3. Wie viele beherrschen (und gebrauchen!) Hochsprache und Dialekt nebeneinander? Und 4.: Wie verhalten sich die Sprache der engeren und der weiteren Heimat zu anderen Sprachen – vor allem zu der heute marktbeherrschenden lingua franca, dem Englischen,

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-U­niversität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus so­wie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christ­liche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universi­tät München (Guardini Lehrstuhl).

 

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