RELIGIÖS MUSIKALISCH? EIN NEUER „ALTER“ WEG FÜR DIE KIRCHEN?

Michael Borchard warnt die Kirchen davor, Fatalismus zu zelebrieren, sich auf sich selbst zurückzuziehen und den Anspruch aufzugeben, Herzen und  Köpfe gleichermaßen zu erreichen.

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Michael Borchard
Religiös musikalisch? Ein neuer „alter“ Weg für die Kirchen?

Der Begriff der „religiösen Musikalität“ oder in seinem Falle „Unmusikalität“ wird heute gerne dem Philosophen Jürgen Habermas zugeschrieben, der 2004 in seinem inzwischen legendären Gespräch mit dem damaligen Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI, bekannte selbst „religiös unmusikalisch“ zu sein. Zugleich machte er deutlich, dass er aber auf seine alten Tage als eigentlich „nachmetaphysischer Philosoph“ zugeben müsse, dass eine religiöse Musikalität jene Antworten bei der Sinnsuche bereitstelle, die für ein Gemeinwesen eine wichtige Rolle spielten. Eine Demokratie, die mehr sein will als ein bloßer Modus Vivendi, sei durchaus auf Motive und Tugenden angewiesen, die aus vorpolitischen Quellen stammen, aus religiösen Lebensentwürfen und substanziellen Überzeugungen. Tatsächlich ist der Urheber der Bezeichnung „religiös unmusikalisch“, die fortan zum geflügelten Wort geworden ist, ein ganz anderer Mann, der möglicherweise noch mehr als Jürgen Habermas das Prädikat verdient hätte, das ihm sein Schüler Oskar Negt erst kürzlich verliehen hat: Jahrhundertphilosoph! Wobei der Erfinder des Begriffes nicht nur ein ganzes Jahrhundert früher gelebt hat und zur Geburt von Habermas bereits neun Jahre lang tot war, sondern sich selbst vermutlich lieber als „Jahrhundertsoziologe“ gesehen hätte:  Es geht um Max Weber.

Für ihn, den Kulturprotestanten, den großen Liberalen, war das Bekenntnis der religiösen Unmusikalität nicht nur eine distanzierte Selbstreflektion wie bei Habermas, sondern der Ausdruck tiefen, empfundenen intellektuellen Leidens. Seinem Kollegen Ferdinand Tönnies schreibt er, er sei „religiös absolut unmusikalisch“ und habe nicht die „Fähigkeit irgendwelche ‚Bauwerke‘ religiösen Charakters (…) zu errichten“. Er sei aber „nach genauer Prüfung weder antireligiös noch irreligiös“. Er empfand sich „in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen“. Seine Selbstbezichtigung der „religiösen Inkompetenz“, ja seine Skepsis vor einem religiösen Romantizismus ist schon damals vor etwas mehr als 100 Jahren Ausdruck dessen, was der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead auf eine einfache Formel gebracht: „Die Moderne hat Gott verloren und sucht ihn“. Man mag spontan die Frage in den Raum werfen: Wozu sucht sie ihn? Warum erachtet die Moderne diese Suche überhaupt für notwendig?

Man kann trefflich darüber streiten, ob die Säkularität tatsächlich ein Wertevakuum kreiert, ja gar einen Werteverfall oder ob nicht auch die „ehemals“ christlich hergeleiteten Grundwerte seit der französischen Revolution ebenfalls zunehmend „säkularisiert“ worden und als menschliche Errungenschaft dennoch erhalten geblieben sind. Die Werteforschung jedenfalls unterstellt keinesfalls jenen Landstrichen, die besonders säkular geprägt sind, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes wertlose Gesellschaften beheimaten würden. Auch die These des eingangs erwähnten Jürgen Habermas ist, dass die Philopsophie zwar aus den Quellen der Religion geschöpft habe, aber als Wertelieferant aus sich heraus selbst ausreichende Wirkung entfaltet habe. Vielleicht ist der Effekt des Säkularismus ein anderer: Der Verlust an Spiritualität, an Mystik, an Erfahrungen „Gottes“, die jenseits der puren Rationalität liegen, an Erfahrungen, die wiederum kreative Kräfte für die Gestaltung unserer Lebensumwelt, für Kunst und Kultur, für unser Miteinander freisetzen können.

Das bringt wiederum die Frage auf, ob man nicht die These von der religiösen Unmusikalität oder besser noch der religiösen Musikalität für einen Moment „wörtlich“ nehmen sollte. Die begnadete Geigerin und Pianistin Julia Fischer sieht in der Musik von Bach, Mozart und Beethoven einen unwiderlegbaren „Gottesbeweis“. Wie kann eine solchermaßen vollendete Schönheit, wie kann so unendlich viel übermenschliche Tiefe und Geist entstehen, wie in den Kompositionen dieser Künstler, wenn nicht dahinter eine „höhere Instanz“ steht, die allen Dingen einen Sinn verleiht, eine „divine power“. Man mag derlei Ableitung naiv finden, aber Julia Fischer steht mit dieser Einschätzung in der Tradition der Jahrhunderte, in einer Reihe auch mit ebenso illustren wie explizit religionskritischen Geistesgrößen wie Friedrich Nitzsche. Ausgerechnet der Mann, der das Christentum im Verlaufe seines Lebens zusehends verdammt und Gott bekanntlich für tot erklärt hat, schreibt einmal: „In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion des göttlichen Bach gehört, jedes Mal mit dem Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“ Schade, mag man mit einem Schmunzeln und einem Seufzer nachschieben, dass es im Falle des Philosophen dann am Ende bekanntlich ja doch keine Lernwirkung entfaltet hat.

Damit sind wir beim Kern des Problems: Sind wir heute nicht in einer Situation, in der zumindest vordergründig die Anreize, ja die Plausibilität, das „Christentum zu verlernen“, größer sind als die Anreize sich ihm wieder zu nähern, sei es über die Kunst, die Lebenserfahrung oder das Beispiel anderer Menschen? Schwer erschütterte Kirchen mit einem Missbrauchsskandal, der viel tiefer und schmerzlicher in den Kern unserer Identität reicht als wir uns das gelegentlich eingestehen wollen, zögerliche Kirchen, die sich verunsichert auf sich selbst und ihre strukturellen Probleme konzentrieren, als auf allen Wegen, selbstbewusst und offen das zum Schwingen zu bringen, was religiöse Musikalität befördert. Kann es nicht sein, dass Kirchen, dass ein Christentum, das nicht mehr in der Lage ist, den zugegebenermaßen sperrigen Begriff der „Gotteserfahrung“ mit Leben zu füllen, dass ein solchermaßen spirituell erfahrungsarmes Religionsangebot den Atheismus, den die Kirchen beklagen, selbst letztlich mit hervorbringt? Sozusagen als nach unten offene Spirale.

Wir leben, was die Religionen anbetrifft eigentlich in einem Paradox: Viele Menschen empfinden sich in unserer modernen Welt, in einer Zeit der empfundenen „Entgrenzungen“, in der Ära der Globalisierung und Digitalisierung, entwurzelt und suchen nach Sinn, nach Orientierung, nach „Beheimatung“. Wo eine Nachfrage ist, so möchte man meinen, profitiert das Angebot. Aber das ist nicht der Fall: Alle Empirie zeigt, dass der Trend sich nicht abbremst und die Säkularisierung nicht wirklich zurückgeht. Eine „Gegenbewegung“ in dieser Abwärtsdynamik ist allerdings auffällig. Ganz gleich ob das in ehemals kommunistischen oder ehemals katholischen Landstrichen geschieht: Die evangelikalen Kirchen haben Zulauf. Was haben die, was andere „Anbieter“ offenbar nicht haben? Wenigstens das Bemühen, im Alltäglichen die Gegenwart Gottes erfahrbar zu machen und sich auf das Wort, auf das Evangelium, aber auch auf das gemeinsame Erleben der „Feier“ des Gottesdienstes zu konzentrieren – unter intensiver Einbeziehung der Musik. Das mag je nach Ausrichtung seine sektiererischen Blüten treiben und auch zu Intoleranz führen, aber niemand mag diesen Ausprägungen des Christentums die Lebendigkeit absprechen. Innerhalb der katholischen Kirche sind es die Neokatechumenalen und die Charismatiker, die gegen den Trend wachsen. Erstere nicht ganz zu Unrecht mit dem Vorwurf versehen, sie bildeten eine Gemeinde in der Gemeinde und trügen damit nicht gerade zur Einheit der Kirche bei.

Man muss nicht diese Wege gehen, schon gar nicht, wenn es separate Pfade sind, aber man kann etwas daraus lernen, nämlich dass nicht nur die Funktion, sondern auch die Form eine Rolle für die Gläubigen spielt; eine Form, die Wort und Gesang, Spiritualität, Kontemplation und Emotion, Musik und Bild, in eine stimmige Gesamtdarstellung einfügt. Eine stimmige Gesamtdarstellung, die einem wichtigen Aspekt der Nachfolge Christi betont, dem die protestantische und die katholische Kirche, um nicht das abwertende und irreführende Wort der „Amtskirchen“ zu verwenden, nicht die Aufmerksamkeit schenken, die ihm zukommen müsste: Dem Aspekt der „Mission“ – nach innen und nach außen. Man darf die kritische Frage stellen, ob die Kirchen in der Corona-Krise, einer Zeit maximaler Verunsicherung, in der im Übrigen die Absenz von Gesang besonders schmerzlich empfunden worden ist, wirklich alle Chancen genutzt haben, ihren Glaubenden auf allen Wegen nahe zu sein und beizustehen.

Dieser Gedanke eines spirituellen Gesamtkunstwerkes, der im Sinne der „missio“ neue Überzeugungskraft für Glaubende und (Noch-)Nichtglaubende entwickeln sollte, kann eine Gefahr verhindern, die der russische Pianist Arcadi Volodos zum Ausdruck gebracht hat: „Ich bin kein Experte für Religion. Nur dies: Ich denke, in der Musik kann man mehr Spiritualität finden als in der Kirche.“ Den EKD-Kulturbeauftragter Hinrich Claussen langweilen diese „kunstreligiösen Überbietungsbehauptungen à la ‚Die Kunst ist die bessere Religion‘. Damit wird man weder der Religion noch der Kunst gerecht.“ Das setzt aber voraus, dass die Kirchen statt diesem Wettbewerb des „Entweder-oder“ eine Kultur des „sowohl als auch“, einen neuen Einklang von Kunst und Religion auch wirklich beherzt praktizieren, um auch jene zu erreichen, die sich nicht oder nicht mehr angesprochen fühlen.

Religiöse Unmusikalität im Sinne Max Webers sagt ja nichts anderes aus, als einen Mangel an Begabung, religiös zu empfinden. Mit mangelhafter Begabung wird man es nie zur Meisterschaft bringen. Das stimmt, aber wenn Übung den Meister macht, dann wäre für die Zukunft der Kirchen vor allem eines tödlich: Den Fatalismus zu zelebrieren, sich auf sich selbst zurückzuziehen und den Anspruch aufzugeben die Herzen und die Köpfe gleichermaßen zu erreichen. Dann würde auch die Begabung zur Religion nicht mehr helfen.

 

 

Michael Borchard (1967) ist Leiter in der Konrad-Adenauer-Stiftung das Archiv für Christlich-Demokratische Politik. Zuvor war er Leiter des Büros der Stiftung in Jerusalem und der Hauptabteilung Politik und Beratung sowie Redenschreiber für Helmut Kohl und Bernhard Vogel. Er studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Öffentliches Recht an der Universität Bonn.

 

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