CHRISTENTUM UND ISLAM IN DEUTSCHLAND

Hanna Josua plädiert angesichts der Migrationsbewegungen für eine „versöhnte Toleranz“ auf dem Boden des Grundgesetzes.

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Hanna Josua

Christentum und Islam in Deutschland

Deutschland von außen gesehen
Als orientalischer Christ aus dem Libanon erlebte ich meinen ersten politisch-religiösen Schock 1980, unmittelbar nach meiner Ankunft in Deutschland. Ein Bekannter von mir, aus dem Irak geflohener Konvertit vom Islam zum Christentum, ehemaliger Offizier, bemühte sich um Aufenthalt in Deutschland – vergeblich. Die religiösen Argumente, die er gegenüber den Behörden anführte, fruchteten nicht. Die Behörden forderten ihn auf, Beweismaterial aus dem Irak vorzulegen – für ihn als Deserteur unmöglich. Seine neue religiöse Zugehörigkeit brachte ihm keinerlei Bevorzugung von Seiten des Staates, der den Fall rein rechtlich betrachtete. Das „christliche“ Deutschland, das einen Neu-Christen ablehnte…

Mein Engagement für diese Menschengruppe blieb damals leider oft erfolglos. Mit hohem Aufwand konnten wir für wenige hochqualifizierte Personen eine Lösung finden, meist durch Weiterwanderung in die USA und Kanada. Diese bitteren Erfahrungen veränderten mein Bild, das wir als gebildete Elite in der islamischen Welt über Europa und speziell über Deutschland hatten. Sehr früh wurde ich eines Besseren belehrt über meine neue Heimat: Die religiöse Zugehörigkeit bringt mir im nunmehr weitgehend säkularen Land der Reformation keinen Vorteil gegenüber anderen Menschen. Die heutige Debatte über Bleiberecht für Konvertiten schließt in bitterer Weis daran an.

Muslime und Christen aus den Ländern Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens sind der Meinung, dass das christliche Europa – ja, wir nennen Europa den „christlichen Club“! – von Christen regiert wird und entsprechend handelt. Diese Betrachtungsweise rührt von den Prämissen in unseren Heimatländern her, von den oftmals leidvollen Erfahrungen in Geschichte und Gegenwart. So lassen sich auch Verdrängungsmechanismen gegen asylsuchende Christen in den Gemeinschaftsunterkünften in den Jahren 2015-2018 erklären – sie sind schlichtweg importiert, eine Fortführung der erlernten Sozialisation. Diese aber gilt es, unterstützt durch staatliche Vorgaben und wenn nötig Druck, zu überwinden.

Christlich-theologische Begründung
Menschenrechte, Gewissens- und Religionsfreiheit, die in der deutschen Verfassung garantiert sind, begründen unser Gemeinwohl und gesellschaftliches Miteinander. Als Christen gehen wir aber noch darüber hinaus: Für uns gründen sie auf unserem gemeinsamen Menschsein als Geschöpfe Gottes, ja, noch mehr – als Ebenbilder Gottes (Gen 1,27). Erst darin können wir unser Menschsein entfalten. Von dieser höchsten aller Würden, die nach Art. 1 GG unantastbar ist, leben nicht nur wir selbst, sondern es ist unsere Pflicht, sie auch anderen zuzugestehen. Das verbindet uns – und das bindet uns. Gerade weil jeder Mensch imago Dei ist und von der bedingungslosen Liebe Gottes zu jedem seiner Geschöpfe umfangen ist – darum sollen diese Einsicht und die Vernunft zur Toleranz führen.

So sind wir auch bei aller theologischen Differenz zu Muslimen doch vereint in unserem gemeinsamen Menschsein vor Gott. Gerade die Differenzerfahrung ist der Ort und der Zeitpunkt, an dem sich der staatsbürgerliche Dialog bewahrheiten kann und muss. Wir brauchen nicht Einigkeit im Bekenntnis, um gemein­sam und im Frieden leben und arbeiten zu können.

Öffnung für neue Koraninterpretationen
In diesem Sinne erlaube ich mir, Muslime dazu einzuladen, über den koranischen Begriff „Khalifa – Statthalter“, im europäischen Kontext nachzudenken und den Begriff neu zu interpretieren. Im Koran ist der Mensch nicht Ebenbild Gottes, aber sein Statthalter auf Erden. Der von Gott eingesetzte „Khalifa“ kommt zweimal im Koran vor. Zunächst wird Adam, der Stammvater der Menschheit, so bezeichnet (Sura 2,30). König David wird als Statthalter von Gott eingesetzt (Sura 38,26). Diese Betrachtungsweise des Menschen als Adamsnachkommen kann ein Ansporn sein, das Zusammenleben neu zu gestalten und gelingen lassen, denn es kommt ohne religiöse Qualifizierung der Menschen aus. König David als leiblicher Vorfahre Christi ist dann ein interessanter weiterführender Aspekt.

Gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung
Gemeinsam mit Muslimen sind wir eingeladen darüber nachzudenken, welche gemeinsamen Nenner uns verbinden, um das Zusammenleben positiv zu fördern, die Gesellschaft friedlich zu gestalten und sie zukunftsfähig zu machen. Dafür lohnt es sich, eine gemeinsame Sprache zu finden und gemeinsame Werte zu vertreten und dies dann auch adäquat öffentlich zu kommunizieren. Dazu gehört, Streitkultur zu üben, Selbstviktimisierung zu meiden, polemische Tendenzen und Polarisierungen zu unterbinden, Fehler beim Namen zu nennen, sich gegen antidemokratische und antifreiheitliche Ideologien zur Wehr setzen, jede Art von Diskriminierung im Bezug auf Rasse, Sprache, Hautfarbe, Religion und Geschlecht zu verurteilen. Muslime in Deutschland sind gut beraten, bei problematischen Anfragen nicht mantrahaft zu wiederholen: „Das hat mit dem Islam nichts zu tun“. Denn die negativen Auswüchse in der islamischen Welt sind nicht an den europäischen Außengrenzen stehengeblieben. Diese Entwicklungen dürfen nicht den Ton angeben. Auch für die Kirchen ist die Zeit nunmehr reif, dass sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und integrationsorientierte liberale Lesarten des Islams fördern.

Gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten
Wer als Migrant in Deutschland lebt, braucht seine Herkunft nicht zu verleugnen. Das deutsche Grundgesetz bietet genügend Raum für kulturelle Vielfalt und sichert die Freiheit des Glaubens und die Rechte von Minderheiten. So hat jeder Migrant Teil an den mühsam errungenen Werten und der Ordnung des Grundgesetzes, die jeden Menschen ungeachtet seiner Herkunft und Prägung wertschätzen und gleich behandeln – eine Auswirkung des biblischen Menschenbildes. Ganz klar muss aber auch sein: Er muss bereit sein, eine offene Gesellschaft nach dem Leitbild des Grundgesetzes mitzugestalten.

Gesellschaften verändern sich, denn sie sind ein lebendiger Organismus. So wird auch die deutsche Gesellschaft durch die Menschen, die hierher kommen, vielfältiger. Migration ist immer eine Wechselbeziehung: Die Migranten verändern sich. Und die aufnehmende Gesellschaft verändert sich. Nur wenn alle Bürger dieser Gesellschaft einen Konsens über die Geltung und die Konsequenzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung finden, wird sie überleben.

Dann können wir gemeinsam eine versöhnte Toleranz erstreiten, die auf dem Bewusstsein der einen Menschheitsfamilie gründet – eine Fähigkeit, die von jedem Einzelnen und den Gesellschaften entwickelt und gepflegt werden muss. Die Ehrfurcht vor dem Schöpfer und das Verankertsein im eigenen Glauben bedingt Ehrfurcht, Achtung und Respekt vor dem Leben und vor dem Mitmenschen – Voraussetzung für jede Begegnung.

Dr. Hanna Josua (1956) ist Geschäftsführer des Evang. Salam-Center und Pfarrer der Arab. Evang. Gemeinde in Stuttgart und weitere Tochtergemeinden. Er studierte an der American University of Beirut (Geschichte, Politikwissenschaft) und wurde 2005 an der Evang. Theol. Fakultät Leuven promoviert. Er ist u. a. Landeskirchlicher Beauftragter für die Seelsorge an Arabischsprechenden in Württemberg und Gastdozent am Jordan Evangelical Theological Seminary in Amman / Jordanien.

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