SOLIDARITÄT ALS STRUKTURPRINZIP STAATLICHER ORDNUNG

Manfred Spieker beschreibt Solidarität als – neben der Subsidiarität – zentrale Möglichkeitsbedingung des Gemeinwohls.

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Manfred Spieker

Solidarität als Strukturprinzip staatlicher Ordnung

Was ist Solidarität? Solidarität ist ein Bewußtsein wechselseitigen Verbunden-Seins und Verpflichtet-Seins. Der Begriff kommt vom lateinischen „solidare“ und meint verstärken, verdichten, fest zusammenfügen. In der politi­schen Philosophie und in der Sozialethik bringt der Begriff die Tatsache zum Ausdruck, daß die Menschen aufein­ander angewiesen sind – nicht nur in Familie und Gemeinde, sondern auch in Gesellschaft, Staat und internationa­len Beziehungen. Dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein ist nicht allein negativ zu verstehen, als seien die Men­schen nur deshalb aufeinander angewiesen, weil sie nur so ihre jeweiligen Schwächen und Defizite ausgleichen können. Die positive Perspektive: Sie sind auch aufeinander angewiesen, um ihre Anlagen und Fähigkeiten in die sozialen Beziehungen einzubringen und einander zu bereichern. Jeder Mensch ist nicht nur Mängelwesen[1] oder Bettler, sondern auch Mäzen, auf Hilfe angewiesen, aber auch „für das Geschenk geschaffen“[2].

Solidarität ist wie die Subsidiarität eine zentrale Möglichkeitsbedingung des Gemeinwohls. Sie ist, schrieb Johan­nes Paul II. in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis 1987, „nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächli­cher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah und fern“, sondern „im Gegenteil, … die feste und be­ständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen“[3]. Das Gemeinwohl ist die Gesamtheit der po­litischen und sozialen Möglichkeitsbedingungen der personalen Entfaltung des menschlichen Lebens. Solidarität ist nicht dasselbe wie Nächstenliebe. Sie ist „ihrer Tendenz nach utilitaristisch … Solidarität rechnet mit Solidari­tät, Nächstenliebe rechnet nicht“[4]. Alle Systeme der Kranken-, Unfall- und Altersversicherung im Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland dokumentieren diese „rechnende“ Solidarität. Solche Versicherungssysteme be­schäftigen denn auch eher Mathematiker als Theologen oder Philosophen. Solidarität strebt deshalb nach Regel­haftigkeit und rechtlicher Verfassung. Auch rechtliche Regelungen der Migration oder „Solidaritätszuschläge“ in der Einkommens- und Körperschaftssteuer zur Bewältigung der Probleme der Wiedervereinigung Deutschlands beruhen auf dieser rechnenden Solidarität.

Solidarität ist sowohl eine Tugend als auch ein Strukturprinzip staatlicher Ordnung. Sie ist die Fähigkeit und die Bereitschaft des Einzelnen, die Würde und die Rechte der Mitmenschen anzuerkennen und diese Anerkennung in der eigenen Lebensführung und im Handeln zum Ausdruck zu bringen – auch gegenüber Flüchtlingen und Mi­granten sowie seitens der Migranten gegenüber der Gesellschaft des Aufnahmelandes.[5] Zugleich ist Solidarität ein Ordnungsprinzip in Gesellschaft und Staat, das der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit dient. Deshalb hat die Rechts- und Verfassungsordnung eines Staates Strukturen und Institutionen vorzusehen, die geeignet sind, Solidarität unabhängig von täglichen Willensentscheidungen des Bürgers zu realisieren. Nicht nur die Institutio­nen der Sozialversicherung, auch zahlreiche andere Institutionen von den Bildungseinrichtungen und der Schul­pflicht über die Streitkräfte bis hin zu den Finanzämtern sind eine logische Konsequenz des Solidaritätsprinzips. Der Staat als der größte verfaßte Solidarverband ist selbst Ausdruck der Solidarität. Er wird konstituiert durch ein Volk, ein umgrenztes Territorium und eine Verfassung, der eine gemeinsame Idee von Freiheit, Gerechtigkeit und politischer Willensbildung zugrunde liegt, sowie durch eine entscheidungs- und durchsetzungsfähige Staatsge­walt. Der Staat ist ebenso Bedingung wie Ergebnis einer funktionierenden Rechts- und Verfassungsordnung.

Die Flüchtlinge im Herbst 2015 flohen aus Staaten, die ihrer Ordnungsfunktion nicht gerecht wurden, in Staaten, deren Rechts- und Verfassungsordnung funktionierte und in der Lage war, ihnen Schutz zu bieten. „Flüchtlinge überwinden … nicht nur Grenzen, sie flüchten, wenn sie Schutz vor Verfolgung suchen, gerade auch hinter eine Grenze, weil nämlich nur eine territorial umgrenzte Herrschaft ein realistisches Schutzversprechen abgeben kann“[6]. Der weit verbreiteten Ansicht, „Grenzen, die nicht für alle Menschen durchlässig sind, seien eigentlich überholt und jedenfalls inhuman“, ist entgegenzuhalten, dass es einen Staat ohne Grenzen und ohne Grenzregime nicht geben kann und dass Rechtssicherheit nur von Institutionen gewährleistet werden kann,, die für ein definier­tes Gebiet zuständig sind.[7] Die Kontrolle der Staatsgrenzen ist deshalb eine conditio sine qua non, um die neue Völkerwanderung zu bewältigen.

In den kirchlichen Stellungnahmen zur neuen Völkerwanderung bleibt das Erfordernis einer Grenzkontrolle aber ein blinder Fleck. Sie ermangeln einer sozialethischen Perspektive, deren Fokus auf den institutionellen Möglich­keitsbedingungen einer Schutz bietenden Grenze und eines Grenzen sichernden demokratischen Rechtsstaates liegt[8]. Das gilt für die Leitsätze der Deutschen Bischofskonferenz zum Engagement für die Flüchtlinge ebenso wie für die Stellungnahmen von Papst Franziskus und die 20 Handlungsschwerpunkte, mit denen der Heilige Stuhl Einfluß auf die beiden UN-Abkommen über Flüchtlinge und Migranten nehmen wollte, die bei einer Konfe­renz der Staats- und Regierungschefs am 10. und 11. Dezember 2018 in Marokko beschlossen wurden.

Es dominiert die moralische Perspektive, die Papst Franziskus in den erwähnten vier Imperativen zum Ausdruck brachte: „Aufnehmen, Schützen, Fördern, Integrieren“. „Aufnehmen“ gebiete, so Franziskus, „die Möglichkeiten zur legalen Einreise auszuweiten, Flüchtlinge und Migranten nicht an Orte zurückzuweisen, wo ihnen Verfolgung und Gewalt drohen“. „Schützen“ gebiete, „die unantastbare Würde all jener, die vor einer realen Gefahr fliehen und Asyl und Sicherheit suchen, anzuerkennen und zu wahren“. „Fördern“ gebiete „die Unterstützung bei der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung von Migranten und Flüchtlingen und … Zugang zu allen Stufen der Bildung“. „Integrieren“ gebiete, „den Flüchtlingen und Migranten zu ermöglichen, voll und ganz am Leben der Gesellschaft, die sie aufnimmt, teilzunehmen“[9].

Diese vier Imperative sind nicht falsch. Sie enthalten Pflichten, die sich aus dem Solidaritätsprinzip ergeben, um die neue Völkerwanderung zu bewältigen. Aber sie sind unvollständig. Sie ermangeln einer Reflexion auf das Subjekt, das in der Lage sein muß, aufzunehmen, zu schützen, zu fördern und zu integrieren.  Dieses Subjekt ist zunächst einmal nicht die Zivilgesellschaft, sondern der Staat, im Falle der europäischen Zielländer der neuen Völkerwanderung der demokratische Rechtsstaat. Erst wenn seine Ordnungsfunktion und seine Stabilität gesichert sind, rückt die Zivilgesellschaft in den Blick. Erst dann können die vier Forderungen erhoben werden, Flüchtlinge aufzunehmen, zu schützen, zu fördern und zu integrieren. Die Ordnungsfunktion zu sichern, bleibt eine staatliche und somit politische Aufgabe.

Manfred Spieker (1943) ist Professor i. R. für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück .2002 – 2007 war er Präsident der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre.  Seine For­schungsschwerpunkte liegen auf den Feldern des Sozialstaates, der Bio- Friedens- und Wirtschaftsethik. 2012 wurde er zum Konsultor des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden durch Papst Benedikt XVI. ernannt.

[1] So die berühmte Formulierung von Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek 1961, S. 46 ff.

[2] So Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in Veritate vom 29. Juni 2009, Nr. 34.

[3] Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis vom 30. Dezember 1987, Nr. 38.

[4] So Josef Isensee, Solidarität – sozialethische Substanz eines Blankettbegriffs, in: ders. (Hrsg.), Solidarität in Knappheit. Zum Problem der Priorität, Ber­lin 1998, S. 103 f.

[5]  Josef Isensee, Was wir fordern dürfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Februar 2016, S. 8. Richard Schröder,  Was wir Migranten schulden – und was nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. August 2016, S. 6

[6] Klaus F. Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und Territorialität im Kontext, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Hrsg. Der Staat in der Flüchtlingskrise, Paderborn 2017, S. 108.

[7]  Richerd Schröder,  Was wir Migranten schulden – und was nicht, S. 6.

[8] Eine „religiös-gesinnungsethische Überhöhung der getroffenen Regierungsentscheidungen“ wirft Franz-Josef Bormann, Migration und terroristische An­griffe. Ein moraltheologischer Blick auf neue Sicherheitsprobleme, in: Die Neue Ordnung, 72 (2018), S. 7, den Kirchenleitungen vor.

[9] Franziskus, Botschaft zum Weltfriedenstag 2018,  Nr. 4. In seiner Rede im Caritas-Zentrum für Migranten in Rabat am 30. März 2019  erläuterte Papst Franziskus erneut die vier Imperative.

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