ENTGÖTTERUNG DER WELT

Hans Maier warnt vor mythischen Vorstellungen einer „politischen Religion“, denn überall, wo die christliche Scheidung der Gewalten in Frage gestellt wird, wird der Staat notwendigerweise zum Alleinherrscher.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

Hans Maier

Entgötterung der Welt

Das Christentum tritt hervor in einer Welt, in welcher der Friede Roms, die Pax Romana, herrscht. Und es trifft in den ersten Jahrhunderten seiner Ausbreitung auf eine universelle politische Religion: den Kaiserkult. Auf der Höhe der augusteischen Epoche wird das goldene Zeitalter ausgerufen; die Götter sollen für immer versöhnt, ein Friede soll auf ewige Zeiten gesichert werden. Eine politische Eschatologie breitet sich aus in der gesamten von Rom beherrschten Welt, mit verschiedenen Akzenten in West und Ost, aber mit dem selben universellen Anspruch: Während der Kaiser in Rom als princeps auctoritate regiert, wird er in der östlichen Reichshälfte als Gottheit verehrt, zu der man um die Fortdauer des Friedens betet.

Der römische Staat war der Erbfolger der griechischen Polis-Idee. Er hatte diese Idee ins Ökumenische erweitert, indem er das Bürgerrecht der Stadt ausgeweitet hatte zu einem römischen Weltbürgerrecht. Er hatte zugleich die alte Polis- Einheit von Kult und Politik erneuert und sie zum zwingenden Gesetz des Reiches gemacht. In der Verehrung der römischen Kaiser gipfelte der Kult der Götter. An diesem Punkt, dem Kaiseropfer, entbrannte der Streit mit dem jungen Christentum.

Die Haltung der frühen Christenheit zu Kaiser, Obrigkeit, politischer Gewalt ist, wie bekannt, nicht auf eine einfache Formel zu bringen. Quietistische Bescheidung, duldender Gehorsam finden sich in den Zeugnissen ebenso wie die herausfordernde These „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29) – Vorbote jahrhundertelang immer wieder aufflammender Kämpfe zwischen christlicher Kirche und weltlichem Regiment.

Als Kontinuum in den wechselnden geschichtlichen Situationen treten zwei Züge hervor: Die Christen gehorchen, apostolischer Weisung folgend, der Obrigkeit; und sie beten – selbst in Verfolgungszeiten und ungeachtet ihrer entschiedenen Ablehnung des Kaiseropfers – für den Kaiser und für das Heil des Reiches. Freilich, wem gehorchen, für wen beten sie? Sie gehorchen einer Obrigkeit, die unter Gottes Gericht steht; und sie beten für einen Kaiser, der ein Herrscher ist, nicht ein Gott.

Wo Obrigkeit ist, da ist sie im christlichen Verständnis von Gott verordnet. Wo ein Kaiser herrscht, da hat er keine Macht – es sei denn, sie wäre ihm „von oben gegeben“. So ist aller Gehorsam eingebettet in eine fundamentale Reduktion weltlicher Macht: Kein irdischer Herrscher kann sich post Christum natum absolut setzen und für das Ganze ausgeben, keiner kann die Geschichte ans Ende bringen, die Götter versöhnen, den Weltfrieden ausrufen.

Mit Christi Inkarnation und Opfertod ist „die Zeit erfüllt“, der Bann irdisch- geschichtlicher Macht gebrochen. Alle Mächte und Gewalten werden durch Christus „zur Schau gestellt“ und ihres dämonischen Charakters entkleidet. Dämonisch ist nach christlicher Lehre, was sich Gott nennt, ohne es zu sein. Kaiser und Reich, Staat und Herrscher werden zu Dämonen, wenn sie göttliche Allmacht für sich beanspruchen. Diesem Anspruch darf, ja muss sich der Christ widersetzen, denn er weiß, dass er auf Usurpation beruht und damit nichtig ist; er durchschaut die Faszination des Scheingöttlichen als eitles Blendwerk, als Maskerade, als pompa diaboli.

Damit werden Staat und Politik etwas anderes, als sie bis dahin waren – sie enthüllen sich in einem radikalen Sinn als menschliche Schöpfung, als „Menschenwerk“. Das Politische ist nichts Göttliches. Es wird – christlich gesprochen, zu sich selbst, zu seinen irdischen Zwecken befreit. Seine eigene, nicht mehr mit Religion und Kult ununterscheidbar verflochtene Geschichte beginnt. In mancher Hinsicht beginnt sie erst jetzt.

So steht vor dem Dienst der alten Kirche am Staat in Gestalt von Gebet und Gehorsam ein anderer, fundamentalerer Dienst: die Entdivinisierung, Entgötterung (oder wiederum christlich gesprochen: die Entdämonisierung) des Staates – die Auflösung der spätantiken Symbiose von Kaiser, Reich und Gottesverehrung. Dass dies ein Dienst am Staat sei, eine Befreiung des Staates zu sich selbst, ein Schritt zu seiner rechtlichen Bindung, Vergesetzlichung, Kontrolle – das musste heidnischen Betrachtern freilich wie eine Blasphemie erscheinen. Viele verdächtigten daher die Christen, die in ihren Augen die Sorge um die Götter, die religio, vernachlässigten, als „Atheisten“.

Aber auch die Christen selbst lösten sich nur langsam von den überlieferten politisch-religiösen Denkweisen. Das zeigen die regelmäßigen Rückfälle in eine – nunmehr christlich gefärbte – Rom- und Reichstheologie in der Geschichte des Christentums seit Konstantin. Allzu nahe lag die Versuchung, auch in christlichen Zeiten Himmel und Erde immer wieder durch ein forderndes „Gott will es!“ kurzzuschließen und so den welttranszendenten Gott in irdische Kämpfe und Konflikte zu verstricken.

Überhaupt: Die leidenschaftlich- gewalttätige Versicherung der Welt in Gott scheint ein ewiges menschliches Bedürfnis zu sein. Man kann die Linien aus bis in die Gegenwart hinein ausziehen. Immer wieder kommt es auch in der Moderne zu Regressionen in die mythische Einheit von Kult und Politik, zur Leugnung des für die Geschichte nach Christus geltenden „eschatologischen Vorbehalts“. Selbst in der abgeschwächten Form der „Zivilreligion“ rivalisiert diese Tendenz bis heute mit den Kräften christlicher Weltfreigabe. Bei vielen herrscht die illusionäre Erwartung, Christus sei der „Ordner der Welt“ und nicht vielmehr deren „tödliche Freiheit“ (Reinhold Schneider).

Dennoch: Die Geschichte des Christentums ist die Geschichte einer fortwährenden Destruktion „politischer Theologien“. Die Lehre von der göttlichen Monarchie scheiterte am trinitarischen Dogma. Die Pax Augustea im Sinn eines ewigen Friedens fand ihre Grenze an der christlichen Eschatologie. Der christliche Kaiser des Mittelalters verlor im Investiturstreit seine numinosen Qualitäten. In der Neuzeit wurden nacheinander die monarchische Geschichtstheologie Bossuets und ihr Gegenstück, die theologische Demokratielehre der Konstitutionalisten in der Französischen Revolution, entzaubert.

Darin wird deutlich, dass das Politische im christlichen Äon nicht mehr, wie in der Antike, rundum den Daseinssinn des Menschen bestimmt und beherrscht, dass es vielmehr ein Nicht-Absolutes, ein Vorletztes darstellt, das für den Menschen Dienst- und Instrumentcharakter hat. Der Christ nämlich soll, nach einer Formulierung Augustins, diese Welt, auch die politische, nicht „anbeten“, sondern „pflügen“ – das heißt sie erkennen und konstruktiv weiterbilden.

Ist dieser christliche Exorzismus am selbstbezogenen Staat in den neueren Jahrhunderten schwächer geworden? Kehrt am Ende der Neuzeit die antike Theopolitie zurück? 1929 schrieb Hermann Heller angesichts der modernen Totalitarismen den prophetischen Satz: „Der Staat kann nur totalitär werden, wenn er wieder Staat und Kirche in einem wird, welche Rückkehr zur Antike aber nur möglich ist durch eine radikale Absage an das Christentum“ (Europa und der Faschismus, 1929, 56). Eric Voegelin und Raymond Aron haben die Gewaltregime der jüngsten Vergangenheit – Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus – als „politische Religionen“ bezeichnet. Sie sahen in deren Bemühen um eine quasi-religiöse Dimension politischer Ordnung Parallelen zu den Modellen der antiken politisch-religiösen Einheitskultur.

Die modernen totalitären Regime sind aber zugleich auch die Fratze eines pervertierten Christentums, von dem nur äußere Ordnungen, Zwang und Disziplin übriggeblieben sind. Mit ihren „reinen Lehren“, ihren Inquisitionstribunalen und Ketzergerichten, ihren Dissidenten und Renegaten, Apostaten und Proselyten äffen sie problematische Entwicklungen in der Geschichte des Christentums nach. „Was nachgeahmt wird“, sagt Marie-Joseph Le Guillou, „ist oft die Sünde des Christentums“.

Es ist kein Zufall, dass der Auftritt der modernen Gewaltregime Hand in Hand geht mit einem überdimensionalen Wiederaufleben von Personenkult, Vergöttlichung der Herrscher, Apotheose der „toten Helden“ im Umkreis totalitärer Politik. Dafür gibt es nur antike Parallelen. Man denke an die „Pantheonisierung“ Lenins im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, an die kultische Verehrung des Revolutionsführers durch Menschen aus Russland und der ganzen Welt (bis heute!), an die Erlösungs- und Auferstehungsdramaturgie der Feiern für die Toten des 9. November im Deutschland Adolf Hitlers, an anbetungsgleiche Aussagen über politische Führer wie „Er organisierte die Berge / und ordnete die Küsten“ (Stalin) oder: Seine Ideen sind „die Sonne die ewig scheint“ (Mao Tse Tung).

Man könnte denken, das sei heute Vergangenheit, ein Rückfall in mythische Vorstellungen einer „politischen Religion“ sei wenig wahrscheinlich, die Schreckenserfahrungen totalitärer Herrschaft lägen noch zu nahe. Doch der „redivinisierte“ (Eric Voegelin) Staat bleibt nach meiner Meinung auch für die Zukunft eine reale Gefahr – zumal in vielen Teilen der einstmals christlichen Welt das postchristliche religiöse Vakuum fortbesteht.

Überall, wo die christliche Scheidung der Gewalten in Frage gestellt wird, wird der Staat notwendigerweise zum Alleinherrscher ohne Appellationsinstanz, zur selbstbezogenen Macht, gegen die sich der einzelne nur unter Aufbietung aller Kräfte des Willens und des Intellekts zu wehren vermag. Es gehört zum Bild einer „Welt ohne Christentum“, dass in ihr mit dem omnipotenten Staat zugleich auch der Terror antiquus und der panische Angstschrei der Opfer wiederkehrt.

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-U­niversität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus so­wie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universi­tät München (Guardini Lehrstuhl).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert