ZEIT UND VERANTWORTUNG

Hans Maier beschreibt den Einfluß des Christentums auf das moderne Verfassungsverständnis, das dem Gestus der Allwissenheit und einem Auserwähltheitswahn entgegensteht.

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Hans Maier

Zeit und Verantwortung

Das Gefühl für den Wert der Zeit, ihre Unwiederbringlichkeit und Unwiederholbarkeit – und das daraus erwachsende „responsible government“, die Wahrnehmung politischer Aufgaben in festen, kontrollierbaren Verantwortungszeiten und –räumen gehört zu den wichtigen christlichen Überlieferungen, die das Fundament des modernen Verfassungs­staates bilden.

Es hat sich dem westlichen Menschen in Jahrhunderten christlicher Erziehung tief einge­prägt, dass die Zeit eine Frist ist, begrenzt und kostbar, und dass sie unaufhaltsam voran­schreitet, dem Ende zu. Aus diesem Gefühl erwuchs eine strenge Kultur der Lebensge­staltung, eine Ordnung des Zählens, Messens, Einteilens, die vom Stundengebet der Mön­che bis zum Kalender der Kaufleute, vom altchristlichen „Ora et labora“ bis zum moder­nen Countdown, vom Computus der Computisten, die im Frühmittelalter den Ostertermin berechneten, bis zum modernen Computer reicht. Arno Borst hat diese sprachlichen und geschichtlichen Zusammenhänge in seinem Buch „Computus. Zeit und Zahl in der Ge­schichte Europas“ (1991) eingehend dargestellt.

Das Christentum hat deutliche Spuren in unserem Zeitbewusstsein hinterlassen. Die Ab­kehr von sozial differenzierten Ortszeiten, die Zählung und Messung der Zeit nach allge­meinen Maßstäben, die Entstehung einer einheitlichen Weltzeit – das alles hängt mit der Kultur der Zeiteinteilung und Zeitverwendung zusammen, wie sie seit den Anfängen der Christenheit vor allem in den Klöstern (aber auch in der Liturgie, im christlichen Kalen­der, im Kirchenjahr) entwickelt worden war. Ganz selbstverständlich zählen wir unsere Jahre nach einem Ereignis, das nicht am Anfang, sondern in der Mitte der Geschichte liegt, der Geburt Jesu Christi. In Handel und Kommunikation, in der Erinnerungskultur, in den Datierungen geschichtlicher Ereignisse gilt die christliche Zeitrechnung sogar glo­bal – selbst in Gebieten mit anderer Zeitrechnung (China, die islamischen Länder usw.) wird – zumindest ergänzend – nach ihr gerechnet.

Auch die modernen Instrumente der Zeitmessung sind in einer christlichen Zivilisation entstanden. Moderne Zeit als „gezählte Zeit“ beginnt mit der mechanischen Uhr, beru­hend auf der Spindelhemmung mit Waagbalken, die im späteren Mittelalter – also in Eu­ropas „Erster Moderne“ – erfunden wurde. Zwar folgte die Konjunktur der Uhren bald ei­genen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen und modischen Gesetzen

Aber noch in der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert, in Mission und Kolo­nisation erscheinen Uhren zunächst in einem christlichen Kontext. Als europäische Jesui­tenpatres im 16. Jahrhundert in China missionieren, führen sie Uhren mit sich – die­se öffnen ihnen sogar die Pforten des kaiserlichen Palastes in Peking. Bis zur Auflösung ihrer Mission leitete immer ein Jesuit die Uhrenwerkstatt und –sammlung des Kaisers. Auch Franz Xaver soll schon 1550 Yoshitaka Ouchi, dem Gouverneur vom Yamaguchi, eine Uhr überreicht haben – nach allgemeiner Meinung die erste mechanische Uhr euro­päischer Herkunft in Japan (Carlo M. Cipolla).

Die Uhr ist ein Ausdruck der Herrschaft über die Zeit. Auch der christliche Kalender er­wuchs aus einem Herrschaftsanspruch: Christi Herrschaft über die Zeit war für Christen der Anlass, die Orientierung an der kaiserlichen Zeitrechnung zu überprüfen – eine Ent­wicklung, die dann zu einer eigenen christlichen Zeitrechnung führte. Seit 525 ist die Zählung nach Christi Geburt bezeugt. Die Jahre vor Christi Geburt zählte man noch lange – jüdischer Übung folgend – von Erschaffung der Welt an. Erst in der Neuzeit, genauer in der Aufklärung, wurde auch die Zählung nach rückwärts allgemein üblich – die Gründe lagen in der größeren Präzision gegenüber den stark divergierenden Daten der Welt­schöpfung. Während noch Bossuet mit beiden Zählungen gearbeitet hatte, verwendete Voltaire die „volle“ prospektive und retrospektive Zeit-Zählung: nach Christus und vor Christus.

Auch der moderne Verfassungsstaat hat, wenigstens indirekt, einen seiner Ursprünge im christlichen Umgang mit der Zeit. Denn das Christentum macht politisches Handeln re­chenschaftspflichtig vor Gott und dem Gewissen. Damit werden die überlieferten Formen politischer Identifikation des einzelnen mit der Bürgergemeinde brüchig. Es genügt jetzt nicht mehr, dass der politisch Handelnde für die Bürgerschaft das Äußerste wagt und sich mit seiner Gemeinde – wenn er erfolgreich ist und nicht untergeht – in ewigem Ruhm ver­bindet.

Die bedingungslose bürgerliche Hingabe, der „Heimfall ans Allgemeine“ (Jacob Burck­hardt) – Kern des antiken politischen Ethos – wird in christlichen Zeiten fragwürdig. Die Vergöttlichung erfolgreicher Feldherrn, Magistrate, Kaiser erscheint als pure Blasphemie. Während die Antike in Gestalt des Heros und der Tragödie die Vergangenheit unmittel­bar in die Gegenwart hineinreißt (und sie damit aus Zeit und Vergänglichkeit herausneh­men will), stellt das Christentum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Verantwor­tungsräume der politisch Handelnden klar und scharf nebeneinander. Am Beispiel des Ruhmes enthüllt Augustin die Selbstbezogenheit, die latente V erantwortungs-Unfähig­keit der antiken politischen Kultur. Der Staat wird von ihm entschlossen in die Zeit ge­stellt und auf das Recht gegründet. Denn ohne Gerechtigkeit sind die Staaten nach seinem berühmten Wort nichts als „große Räuberbanden“.

Verantwortung wird in christlichen Zeiten neu und strenger gefasst: Wie der Mensch über sein ganzes Leben Rechenschaft ablegen muss vor dem ewigen Richter, so wird jetzt auch der politische Bereich zum Raum persönlicher Verantwortung; jeder Schritt muss bedacht, jede Handlung überlegt und abgewogen werden. In den Fürstenspiegeln entwi­ckeln sich Formen einer religiös-pädagogischen Ethik. Mittelalterliche Politik arbeitet mit religiös begründeten Instrumenten und Sanktionen. In der Neuzeit macht der Katholizis­mus die Herrscher rechenschaftspflichtig gegenüber Kirche, Priestertum, Gewissen. Im Protestantismus sind die institutionellen Gewichte schwächer, die inneren Gewissenin­stanzen aber bestehen fort – von der bewusst kirchlichen Politik evangelischer „Betefürs­ten“ zur Zeit der Reformation bis zu dem individualistischen Umgang Bismarcks mit den Losungen der Brüdergemeine.

Den entscheidenden Schritt zur Organisation von Verantwortlichkeit tut dann freilich erst der moderne Verfassungsstaat. Er schafft klare Verantwortungsräume und Verantwor­tungszeiten. Er macht deutlich, wer sich zu verantworten hat, in welchen zeitlichen Ab­ständen, vor welchen Instanzen, mit welchen Verfahren der Bestätigung oder Verwer­fung. Vor allem: Er zerlegt die Machtausübung und macht sie dadurch der Übersicht und Kontrolle zugänglich. Eine Vielzahl rechtlicher und politischer Verantwortungsfelder ent­steht. Sie dehnen sich in der modernen Demokratie auf die ganze Breite des Staatslebens aus: responsible government heißt schließlich, dass die Herrschenden insgesamt den Be­herrschten verantwortlich sind.

Zeit und Verantwortung – die Gegenwart bietet ein vielgestaltiges, oft verwirrendes Bild. Einerseits erleben wir, wie die kulturellen Folgen des Christentums in vielen Bereichen ihre letzte Steigerung erfahren – oft gelöst von ihrer Herkunft. Anderseits schwindet die Bereitschaft zur Übernahme und Weitergabe dieses Erbes – selbst unter Christen. Einer­seits lässt die technische Zivilisation alle Menschen, und keineswegs nur die Christen, die unerbittliche Linearität der Geschichte empfinden – die schattenlose Verantwortlichkeit des Menschen in einer „weltlichen Welt“. Anderseits erschrickt der Mensch vor seinen Taten: viele möchten ausbrechen aus dem christlich initiierten „Ein-für- allemal“, hinein in alte und neue Kosmologien, in Esoterik, Wiederkehr des Gleichen, in Wiedergeburt und Wiederherstellung.

Die weite und diffuse Diskussion zu diesem Thema kann hier nicht referiert werden. Ei­nes scheint mir aber sicher: Die christliche Zeitlinie darf nicht aufgegeben werden – sie kann auch nicht zum Kreis gebogen werden im Sinn einer „ewigen Wiederkehr“. Flucht­bewegungen aus dem strikten Zusammenhang des „Gestern-Heute-Morgen“ würden nicht nur das christliche Zeitverständnis preisgeben, sondern auch die Kultur der Verant­wortung, ja die Struktur unseres öffentlichen Lebens im ganzen in Frage stellen. Wie will man politische und soziale Rechenschaftspflicht begründen, wenn an die Stelle des linea­ren Fortgangs der ewige Kreislauf tritt? Gilt dann nicht allein der Wille vor aller Ver­nunft, wird nicht jedes Recht notwendig zum Vorrecht der Mächtigen, landet man nicht notwendig in einer Gesellschaft, in der nichts wahr und daher alles erlaubt ist?

Wer dies feststellt, muss nicht blind sein gegenüber den Schwierigkeiten, denen die christliche Zeiterfahrung heute bei vielen begegnet. Sie ist häufig vom Fortschrittspara­digma überlagert worden; ihr personaler und geschichtlicher Charakter erscheint verdun­kelt. Politisches Handeln von Christen ist aber mehr als eine mechanische Fortbewegung nach dem Gesetz des „größer-höher- schneller“. Es ist eine Fortbewegung auf ein Ziel, ein Ende zu. Die Zeit hat einen Anfang und ein Ende. Der Christ weiß, dass das Ende im­mer schon nahe ist. So misstraut er den Programmen innergeschichtlicher Perfektibilität. Er weiß, dass der Fortschritt – den er begrüßt – nicht unendlich sein kann, weil die Welt auf ihr Ende zuläuft und eines Tages von „Gottes Zeit“ eingeholt wird.

Diese Einsicht muss keineswegs bedrückend sein, sie kann befreiend wirken. Denn sie macht den Menschen fähig, über sachliche und pragmatische Lösungen in politischen Fragen nachzudenken. Auch der Christ soll und darf das bedenken, was das Zweite Vati­canum die „Autonomie der weltlichen Sachbereiche“ genannt hat. Er weiß, dass ewiges Heil und irdisches Wohl nicht einfach identisch sind, dass man der „Welt unter Gott“ nicht mit dem Gestus der Allwissenheit, noch weniger mit einem Auserwähltheitswahn begegnen darf. Und so kann er sich in den profanen Feldern von Wirtschaft, Politik, Kul­tur vertrauensvoll und ohne Zwang bewegen – „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“, wie unser Grundgesetz behutsam und bescheiden sagt.

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-U­niversität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus so­wie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universi­tät München (Guardini Lehrstuhl).

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