VOLKSPARTEIEN IM WANDEL

Wolfgang Jäger sieht Volksparteien immer stärker in der Pflicht, ein eigenes Profil zu erarbeiten, weil  sie sich immer weniger auf eine  sozialstrukturell geprägte Stammwählerschaft verlassen können.

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Wolfgang Jäger

Volksparteien im Wandel

Nach jeder Wahl wird in Deutschland die Frage nach dem Zustand der politischen Parteien und des Parteiensystems neu gestellt. Zumeist unter dem Verdacht, es mit einer Krise zu tun zu haben. Diese Beobachtung gilt für die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nichts ist so beständig in der Entwicklung der deutschen Demokratie wie die sie begleitende Krisendiagnose.

Die Parteienforschung war und ist theoretisch recht anspruchslos. Am häufigsten werden Funktionenkataloge formuliert und Typologien gebildet. In einem idealtypisch verstandenen Begriff werden die wesentlichen Charakteristika der dominanten Parteien gebündelt, von der programmatischen Ausrichtung über die Mitglieder- und Wählerstruktur bis zu den Funktionen im politischen System. Der Idealtypus wird nach einer mehr oder weniger systematisch vorgenommenen Beschreibung der Parteien gebildet, um dann eine Diskussion darüber auszulösen, wie exakt das Phänomen „politische Parteien“ mit dem Begriff getroffen wird.

Auch der Begriff der Volkspartei ist wissenschaftlich nicht präzise formuliert. Er hat politische, nicht wissenschaftliche Wurzeln. Er entstand im 19. Jahrhundert als legitimatorische und kämpferische Selbstetikettierung vor allem liberaler Parteien. Der Begriff sollte zweierlei zum Ausdruck bringen: einmal eine Stoßrichtung gegen nicht-demokratische bzw. feudalistische politische Kräfte und zum anderen den Anspruch, nicht einzelne Interessen, Schichten oder Klassen zu vertreten, sondern das Wohl des ganzen Volkes.

Die Gründung der Christlich-Demokratischen Union, der ersten Volkspartei in der Bundesrepublik Deutschland, konnte an solche Traditionen anknüpfen, unterschied sich aber konzeptionell deutlich von allen bisherigen Volkspartei- Bündelungsversuchen. Ihre Modernität ergab sich aus der Überwindung der alten Konfliktlinien des Parteiensystems, die sich wesentlich aus den Spannungen im Industrialismus und Konfessionalismus nährten. Die Union sollte sowohl sozialstrukturell wie konfessionell als Klammer wirken, ohne ganz auf ihre spezifischen Milieus zu verzichten. Die SPD wurde mit der Wende von Bad Godesberg 1959 zur zweiten erfolgreichen Volkspartei der Bundesrepublik Deutschland.

Peter Lösche schlug 2009 in einer Analyse, die das „Ende der Volksparteien“ ankündigte, vier Indikatoren für die Definition der Volkspartei vor:
Erstens: eine Schichten und Klassen übergreifende Sozialstruktur der Mitglieder und Wähler, aber ohne gänzliche Aufgabe eines „spezifische[n] soziale[n] Profil[s]“.
Zweitens: auf Dauer ein Wahlerfolg von 35 Prozent der Wähler.
Drittens: die Fähigkeit, allein oder in Koalition mit anderen Parteien die Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Viertens : der Charakter der Milieu-Partei, allerdings nur zum Teil auf dem Fundament einer Stammwählerschaft von 20-25 Prozent.

Es ist nicht schwierig, schon aus der Bestimmung der Indikatoren abzuleiten, dass die Volksparteien Union und SPD im Niedergang sind oder gar schon ihren Charakter als Volkspartei verloren haben. Sowohl der Anteil der Wähler wie der Mitglieder schwindet oder stagniert auf niedrigem Niveau. Das Parteiensystem hat sich von einem Zweieinhalbparteiensystem (CDU/CSU-SPD-FDP) zu einem Mehrparteien-System gewandelt.

Neue Parteien wie vor einiger Zeit die Piraten und heute die AfD stehen zumindest demoskopisch vor den Türen des Bundestages. Die Landtagswahl in Baden-Württemberg von 2011 wurde zum Symbol: In einem klassischen CDU- Land wurde mit Wilfried Kretschmann ein Nicht-Volkspartei-Politiker Ministerpräsident, und eine bisherige Volkspartei nicht Juniorpartner einer anderen Volkspartei, sondern einer Nicht-Volkspartei. In der Landtagswahl von 2016 spitzte sich diese Situation bekanntlich noch zu.

Die These und die Analyse des „Endes der Volksparteien“ machen deutlich, dass es wenig Sinn ergibt, die Volksparteien der ersten Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte zum Idealtypus zu erklären. Die Volkspartei der damaligen Zeit ist ein historischer Realtypus, der sich in dieser Ära entwickelte und zur Blüte gelangte. Parteien verändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel. Da sie in einer Demokratie immer das Bindeglied zwischen der Gesellschaft und dem Staat bilden, spiegeln sie die gesellschaftliche Entwicklung wider. Die Sternstunde der Volksparteien war die spezifische Kombination einer substanziellen Bindung an die Stammwählerschaft: durch die Fortexistenz starker sozialmoralischer Milieus auf der einen Seite, und einer durch diese nicht verhinderten Offenheit gegenüber den Wechselwählern der politischen Mitte auf der anderen Seite.

Diese Situation entwickelte sich im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik. Immerhin vereinigten die Unionsparteien und die SPD bei der ersten Bundestagswahl 1949 nur 60,2 Prozent der Zweitstimmen auf sich, also wenig mehr als im Jahr 2009 mit 56,8 Prozent. Im Jahr 2013 waren es auch nur 67,2 Prozent.

Der gesellschaftliche Wandel, der den uns vertrauten Volkspartei-Typus gefährdete, indem er die Stammwählerschaft schrumpfen ließ, ist vielfach beschrieben worden. Stichworte sind Wertewandel, Differenzierung, Fragmentierung, Pluralisierung der Lebensstile und Individualisierung. Hinzu kam der Wegfall der durch den Ost-West-Konflikt bedingten Polarisierung des Parteiensystems. Mehr als meist zur Kenntnis genommen wird, war nämlich der Parteienwettbewerb bis Ende der 1980er Jahre nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch in der Innen-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Koordinatensystem der Ost-West-Spannung bzw. des Gegensatzes von Kapitalismus und Sozialismus angesiedelt.

Die Schlussfolgerung aus dem Wandel der Gesellschaft muss aber trotz der Veränderungen des Parteiensystems nicht das Ende der bisherigen Volksparteien sein. Denn immer noch gilt trotz des Bedeutungsverlustes der Stammwählerschaft und des Abschmelzens der sozialmoralischen Milieus, dass katholische Kirchgänger mehrheitlich die Union und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter mehrheitlich die SPD wählen. Eine Kernstammwählerschaft ist also noch vorhanden.

Die Volatilität der Wählerschaft allerdings und damit der Zwang der Volksparteien, auf diese Wählerschaft aktiv zuzugehen, um sie zu gewinnen, haben sich vergrößert. Geht man vom selbst gesetzten Anspruch der Volksparteien oder vom Indikator aus, dass Volksparteien ein möglichst breites Spektrum der Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft vereinen, dann hat der gesellschaftliche Wandel dafür eigentlich die Grundbedingungen verbessert: Nämlich weg von einer Gesellschaft, die von klassischen Konflikten konfessioneller, ökonomischer, ideologischer, regionaler oder gar ethnischer Art geprägt war, hin zu einer homogeneren Gesellschaft. Die Wiedervereinigung hat diese Bedingungen weiter akzentuiert, gab es doch in den neuen Bundesländern die traditionellen Wählermilieus gar nicht mehr.

Mehr als jemals zuvor müssen die Parteien eigenständig nach Themen suchen, die den alltäglichen Kosmos von Interessen, Bedürfnissen und Meinungen der Mitglieder und Wähler überlagern und das Profil der Partei nach innen und außen bestimmen. Das Profil der Partei ergibt sich immer weniger aus einer sozialstrukturellen oder sozialkulturellen Topographie, sondern muss kontinuierlich von den Parteien selbst erarbeitet werden. Das Parteiengesetz formuliert es so: Die Parteien sollen „die von Ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen“.

Nach einer Allensbach-Umfrage (FAZ 15.6.2016) trauen aber nur noch 19 Prozent den Unionsparteien überzeugende Konzepte für die Gestaltung der Zukunft zu, der SPD lediglich 9 Prozent. Ein größeres Gewicht als in der Vergangenheit wird deshalb auch einer geschickten symbolischen Politik zukommen. In einem Gutachten über die CDU im Ruhrgebiet schrieb Karl Rohe schon vor einigen Jahren: „Der Zwang zur symbolischen Politik […] ergibt sich vor allem aus einem doppelten Sachverhalt: Einmal aus der Komplexität und Undurchsichtigkeit moderner Politik, die es kaum noch erlaubt, im alltäglichen Vollzug von Politik Prinzipielles zu verdeutlichen; Zum anderen aus dem […] Verlust des im Zeitalter der Milieuparteien noch vorhandenen Grundeinverständnisses von Wählerschaft und Partei, der es erforderlich macht, die ‚Philosophie‘ der Partei von Zeit zu Zeit sinnenfällig zu machen“.

Ebenso große Bedeutung wie der symbolischen Politik kommt den Führungspersönlichkeiten zu. Mehr als jemals zuvor bedürfen die Volksparteien als Magnete der heterogenen und individualistischen Wählerschaft dieser charismatischen Führungsfiguren, die vor allem Glaubwürdigkeit ausstrahlen.

Es geht jedoch nicht nur um charismatische Führungsfiguren. Die Rekrutierungsfunktion der Parteien insgesamt liegt im Argen. Wer möchte heute noch ein politisches Amt – vom Dorfbürgermeister bis zu den Abgeordneten auf den verschiedenen staatlichen Ebenen? Jüngst konnte man lesen, dass die SPD in einem Bundestagswahlkreis in Rheinland-Pfalz (Bitburg) die Kandidatur per Anzeige ausgeschrieben hat.

Die CDU-Führung beispielsweise nimmt die Aufgabe der Parteien, „zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranzubilden“ – so heißt es in § 1 des Parteiengesetzes – nicht ernst genug. Die Zeit ist vorbei, als die Kandidaten gleichsam automatisch aus den Verbänden im vorpolitischen Raum (z.B. Kolping) herauswuchsen. Auch hier sollte sich die Parteiführung heute proaktiv verhalten.

 

Prof. Dr. Wolfgang Jäger (1940) studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Latein an den Universitäten Freiburg, München und an der London School of Economics and Political Science. 1969 schloss er sein Studium bei Dieter Oberndörfer mit der Promotion ab. Jäger habilitierte sich 1973 mit der Arbeit Öffentlichkeit, Parlamentarismus und Parteienstaat. Zur Kritik an einem deutschen Demokratieverständnis. 1974 erhielt er eine Professur für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg. Rufe an die Universitäten Köln, Tübingen und Mainz lehnte er ab. Von 1995 bis 2008 stand er als Rektor an der Spitze der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

 

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