EUROPA UND DIE TÜRKEI NACH DEM REFERENDUM

Gülistan Gürbey plädiert im Verhältnis der EU zur Türkei für durch eine konsequent Konditionalität zwischen demokratischen Fortschritten und wirtschaftlich-finanziellen Anreizen.

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Gülistan Gürbey

Europa und die Türkei nach dem Referendum

Beim Referendum am 16. April 2017 stimmte nur eine knappe Mehrheit von 51,4 Prozent für die Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems. Weder die Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit noch die fast völlige staatliche Kontrolle der Medien und der massive staatliche Propagandaeinsatz bewirkten ein überzeugendes „Ja“ zu diesen Verfassungsänderungen. Im Gegenteil: Der unfaire Wahlkampf und erhebliche Unregelmäßigkeiten und Grundrechtsverletzungen werfen einen Schatten auf das demokratische Verfahren und die Legitimität des knappen Ergebnisses.

Gleichwohl ist der angenommene Verfassungsentwurf eine Zäsur im Prozess der Errichtung einer „Neuen, starken Türkei“ unter der Führung des „starken Mannes“ Erdogan, denn er zementiert den autoritären Staats- und Regierungskurs unter Erdogan verfassungsrechtlich. Spätestens seit der brutalen Niederschlagung der regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2013 nahm dieser Kurs an Ausmaß und Intensität zu, der von Hyper-Nationalismus, Erosion der Demokratie, steigendem Autoritarismus, Eskalation der Gewalt und einer nationalistisch-islamischen, aggressiven Rhetorik geprägt ist. Der erneute Krieg gegen die verbotene PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und die Repressionen gegen die kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) seit Juli 2015 sowie der gescheiterte Militärputsch vom Juli 2016 beschleunigten diesen anti-demokratischen Kurs dramatisch.

Der Verfassungsentwurf besiegelt nunmehr diesen Kurs und ebnet den Weg für ein nicht-demokratisches, autokratisches Präsidialsystem. Er bündelt die ungeteilte Macht beim Präsidenten und höhlt zugleich die Gewaltenteilung und die parlamentarisch-demokratischen Kontrollmechanismen aus. Der ideologisch geleitete Staats- und Gesellschaftsumbau läuft auf Hochtouren, dessen Eckpfeiler ein Hyper-Nationalismus, Politischer Islamismus und Neo-Osmanismus sind. Ziel ist es, unter der Führung von Präsident Erdogan einen omnipotenten, unangreifbaren Staat zu errichten, der den Bürger in seinem Dienste sieht sowie eine Gesellschaft nach genuinen ideologischen Werten zu formieren. Dazu gehört auch, diese „Neue Türkei“ mit der imperialen osmanischen Vergangenheit zu vereinen und zur hegemonialen Führungsmacht in ehemals osmanisch beherrschten Gebieten zu machen.

Mit diesem autoritären Entwicklungskurs hat sich die Türkei längst von demokratischen Standards und vom Konzept der liberalen Demokratie der EU entfernt. Verschiedene Berichte bestätigen diesen Kurs, insbesondere der Venedig Kommission vom 13. März 2017, der OSZE vom 17. April 2017, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 25. April 2017 sowie des Europäischen Parlamentes vom 26. April 2017. Die Türkei steht nunmehr künftig unter der Beobachtung des Europarates, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen. Die türkische Regierung sieht hingegen „bösartige Kreise“ hinter dieser Entscheidung.

Demokratiepolitisch ist die Türkei längst nicht mehr EU-kompatibel. Gegenwärtig würde sie die politischen Kriterien von Kopenhagen nicht erfüllen, deren Erfüllung eine Voraussetzung für die Aufnahme der Beitrittsgespräche im Oktober 2005 war. Die logische Konsequenz dieser Entwicklungen wäre die Aussetzung oder der Abbruch der ohnehin stagnierenden Beitrittsgespräche. Zurecht sind nach dem Referendum die Forderungen nach einem Abbruch der Beitrittsgespräche innerhalb der EU gestiegen, während Präsident Erdogan durch seine anti-westliche Rhetorik und seinen Konfrontationskurs das „Feindbild Westen“ weiter anheizt und gleichzeitig der EU einen Ultimatum stellt und Referenden für die Einführung der Todesstrafe und für ein „Turkexit“ anstrebt.

Bereits lange vor dem Referendum bahnte sich eine Krise auf der Werteebene an, der einen Entfremdungsprozess zwischen der EU und der Türkei auslöste. Der angenommene Verfassungsentwurf verfestigt diesen Prozess und das Handlungsdilemma für die EU. Je mehr die Wertegrundlagen auseinanderdriften, umso mehr schwächt sich die Basis für eine zuverlässige Partnerschaft und umso mehr wird die Türkei zu einem zunehmend unkalkulierbaren Partner. Doch jenseits davon und jenseits der Kooperation in der Flüchtlingsfrage sind die EU und die Türkei immer noch wirtschaftlich, energiepolitisch und strategisch eng miteinander verzahnt. Die Türkei ist ein wichtiges Glied in der Wertschöpfungskette der EU. Nicht zuletzt beeinflusst die menschliche Dimension die Beziehungen, da innerhalb der EU viele Migrantinnen und Migranten aus der Türkei leben. Wie die Einflüsse türkischer Politik auch hierzulande seit Erdogan und seiner AKP-Regierung gestiegen sind, zeigte sich vor allem am Disput über die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder. Aus Sicht der türkischen Regierung ist die gezielte Einflussnahme auf Auslandstürken ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil ihrer hegemonialen Außenpolitik.

Für die EU bleiben nicht viele Handlungsoptionen. Sie könnte die Beitrittsverhandlungen bis auf weiteres auf Eis legen oder endgültig beenden und dennoch die wirtschaftliche, energiepolitische und strategische Kooperation mit einer autoritären Türkei fortsetzen. Dezidiert für die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen einzutreten, ist angesichts der Erosion der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht mehr glaubwürdig zu vertreten, da sie im Kern mit dem demokratiepolitischen Selbstverständnis der EU kollidiert. Dem gestiegenen Handlungsdruck kann die EU wohl kaum ausweichen. Sie muss entschieden handeln und sichtbar mehr Einfluss ausüben. Unabhängig von der Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen oder abzubrechen, hat die EU die Chance, wirksame Hebel einzusetzen. Diese liegen vor allem im Bereich der Wirtschaft und des Handels. Denn die EU ist nach wie vor der größte Handelspartner der Türkei und die EU-Investitionen sind für die türkische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Die Modernisierung und Ausweitung der Zollunion steht an. Nur durch eine konsequent einzusetzende Konditionalität zwischen demokratischen Fortschritten und wirtschaftlich-finanziellen Anreizen hätte die EU die Chance, wirksam demokratiepolitischen Einfluss zu nehmen und gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit zu steigern.

PD Dr. Gülistan Gürbey (Jg. 1963) ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie studierte Politikwissenschaft an der Universität Bonn, promovierte bei Prof. Dr. Dr. Karl-Dietrich Bracher und habilitierte sich an der Freien Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. der Nahe Osten mit Focus auf der Türkei, Zypern und Kurdistan.

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