OTTO WELS UND MATTHIAS ERZBERGER

Norbert Lammert erinnert an zwei Parlamentarier, die in der Weimarer Republik moralische Größe und demokratische Haltung bewiesen haben und an die der Deutsche Bundestag dauerhaft in besonderer Weise erinnert.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

Norbert Lammert

Moralische Größe und demokratische Haltung:
Otto Wels und Matthias Erzberger zum Gedenken

Am 6. Juni 1920 wurde der erste Reichstag der Weimarer Republik gewählt. Zu den Abgeordneten der ersten Stunde in dieser ersten deutschen Demokratie gehörten der 1873 geborene Sozialdemokrat Otto Wels und der 1875 geborene Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 bahnte die Selbstaufgabe des Parlaments – wie man damals ahnen musste und heute weiß – den Weg unumkehrbar in die nationalsozialistische Diktatur. Der Reichstag tagte nach dem großen, mysteriösen Brand schon nicht mehr im Reichstagsgebäude; ein Parlament wurde fortan auch nicht mehr gebraucht.

Dieser Wendepunkt der deutschen Geschichte verweist auch auf die persönlichen Schicksale von Otto Wels und Matthias Erzberger, die der Deutsche Bundestag als zwei herausragende Parlamentarier mit der Benennung prominenter Liegenschaften in Berlin geehrt hat.

Mit ihnen verbinden sich die dramatischen Anfänge und das tragische Ende der ersten deutschen Republik, beginnend mit dem Waffenstillstand im Wald von Compiègne 1918, den zu unterschreiben der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger als Leiter der deutschen Verhandlungsdelegation auf sich nahm, um das sinnlose Gemetzel in Europa nach vier entsetzlich langen Jahren endlich zu beenden.

Als Folge der berechnenden Feigheit verantwortlicher Generäle, ihre militärische Niederlage selbst einzugestehen, blieb nicht nur der Ruf der jungen, gerade neu gegründeten Republik und der parlamentarischen Demokratie nachhaltig beschädigt; auch Erzberger persönlich, der für die Idee eines Völkerbundes und die Annahme des von vielen als „Friedensdiktat“ empfundenen Versailler Vertrags eintrat, wurde Ziel übelster Schmähungen und Verleumdungen und im August 1921 das Opfer eines Mordanschlags.

1933, unmittelbar vor dem Ermächtigungsgesetz, gewährte Reichspräsident Paul von Hindenburg mit einer Verordnung für „Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen sind“, Straffreiheit und damit auch den ins Auslands geflüchteten Attentätern Matthias Erzbergers, für deren Rückkehr sich Hitler persönlich aussprach. Sie hatten einer nationalistisch-antisemitischen Terrororganisation angehört, hervorgegangen aus einem Putsch konterrevolutionärer Kräfte gegen die Republik, der im März 1920 an einem Generalstreik gescheitert war. Dieser Streik war damals organisiert und initiiert von Otto Wels.

Otto Wels war es auch, der als SPD-Vorsitzender am 23. März 1933 in einem Akt demokratischer Selbstbehauptung seine Stimme gegen die Auslieferung der Demokratie an ihre Feinde erhob, als Einziger, mutig und mit bestechender Klarheit. Durch die Kraft der Rede ließ sich die Entwicklung nicht mehr verändern, die Transformation einer labilen Demokratie in einen autoritären, schließlich totalitären Staat. Und doch wurde das Wort zur Tat: zum Widerstand gegen die Anmaßung der neuen Machthaber, zum Signal, zur Botschaft an die Nachwelt, dass auch unter eskalierendem Terror Widerstand nötig und möglich war. Diese historische Erfahrung verdient nicht nur in Deutschland in Erinnerung bewahrt und politisch bewusst zu bleiben. Ähnliche Versuchungen gibt es offenkundig auch heute.

Bei allen Unterschieden in Herkunft und politischer Sozialisation eint Otto Wels und Matthias Erzberger, dass ihr Wirken in der Rückschau auf die existenziellen Krisenmomente reduziert wird. Dabei zeigten sich in ihnen wie in einem Brennglas Charakter und demokratische Gesinnung, die ein viel längeres politisches Leben auszeichneten. Beide gehörten dem Reichstag schon in der Kaiserzeit und insgesamt jeweils fast zwei Jahrzehnte an. Sie organisierten an herausgehobener Position den schwierigen Übergang von der Monarchie zur Republik und formten deren Grundfeste mit – Otto Wels von 1919 an als Vorsitzender seiner Partei, deren führender Kopf er auch im Exil bis zu seinem Tod zwei Wochen nach Kriegsbeginn blieb.

Erzberger wiederum personifiziert das im Kaiserreich gewachsene Selbstbewusstsein des Parlaments. Auch wenn die von ihm initiierte Friedensrevolution, in der sich der Reichstag vor genau 100 Jahren mehrheitlich für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen aussprach, folgenlos blieb, erwies sich das damals geschmiedete parlamentarische Bündnis aller demokratischen Kräfte als tragfähig für die spätere, die Republik stützende sogenannte Weimarer Koalition. In der kurzen Zeitspanne, die Erzberger blieb, um diese Republik mitzugestalten, ist ihm Beachtliches gelungen. Er organisierte ein reichseinheitliches Bahnsystem und schuf als Finanzminister eine der größten Steuerreformen der Geschichte, deren Grundlagen bis in die heutige Zeit reichen, und das übrigens innerhalb von neun Monaten.

Persönlichkeiten zu ehren, die in ihrem Kampf um Demokratie und Parlamentarismus scheiterten und dafür sogar mit dem Leben bezahlten, ist keine deutsche Besonderheit, der Schleier des Vergessens aber, der vielfach über den Wegbereitern unserer Demokratie liegt, schon. So gibt es in Berlin einen Hindenburgdamm, aber bis heute keine Straße und keinen Platz, die bzw. der an Matthias Erzberger erinnert. Deshalb freue ich mich, dass der Ältestenrat meinem Vorschlag gefolgt ist, Gebäude und Säle des Bundestages nach bedeutenden Parlamentariern und Parlamentarierinnen zu benennen.

Mit der Benennung seiner Gebäude Unter den Linden 50 in „Otto-Wels-Haus“ und Unter den Linden 71 in „Matthias-Erzberger-Haus“ setzte der Deutsche Bundestag ein überfälliges Zeichen im öffentlichen Raum. Damit an die Lebensleistung zweier herausragender Parlamentarier erinnert, die beispielgebend moralische Größe und demokratische Haltung bewiesen – zu einer Zeit, als es auch in Deutschland tatsächlich Mut brauchte, um für seine Überzeugungen einzutreten. Ihr Vermächtnis ist und bleibt uns anvertraut.

Norbert Lammert (1948) gehört seit 1980 dem Deutschen Bundestag an und ist seit 2005 dessen Präsident. Von 1989 – 1998 war er Parlamentarischer Staatsekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und danach bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2002 wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundestages, seit 2001 ist er stv. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert