GEMEINSAMES PRIESTERTUM DER GLÄUBIGEN

Michael Mertes und Barbara Rembser-Mertes fordern angesichts des Zusammenbruchs volkskirchlicher Strukturen eine stärkere Nutzung des Potenzials katholischer Laien in der ehrenamtlichen Seelsorge.

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Michael Mertes und Barbara Rembser-Mertes

„Gemeinsames Priestertum der Gläubigen“:
Was bedeutet das in der Praxis?

In seinem 2016 veröffentlichten, zu Recht viel beachteten Fastenhirtenbrief „Mitten unter euch“ schrieb der Kölner Kardinal Woelki: „Eine Kirche, die auf Partizipation, Mitverantwortung und den Reichtum des Glaubens aller Getauften setzt, braucht eine Veränderung unserer Haltungen und Rollenmuster.“ Rainer Maria Woelkis Fastenhirtenbrief „Lebendige Steine“ von 2017 appelliert an die Adressaten, sich über die dazu notwendige Neubesinnung eigene Gedanken zu machen: „Was lässt Sie als Einzelne und/oder als Gemeinde in Jesu Namen erkennbar sein als Christinnen und Christen in Ihrer Stadt, Ihrem Viertel, Ihrem Ortsteil, Ihrem Dorf?“

Abstrakte Prinzipien haben den Vorteil, dass sie konsensfähig sind. Wer möchte schon den Vorwurf hören, er klammere sich an obsolete Haltungen und Rollenmuster? Doch die Wahrheit ist konkret – und wenn es konkret wird, ist es mit dem Konsens oft schnell vorbei.

Mittlerweile haben zwei Gruppen aus dem Erzbistum Köln mit jeweils 20 Priestern und Laien weltkirchliche „Lernreisen“ auf die Philippinen unternommen, um an praktischen Beispielen zu studieren, „wie sich auf der Basis der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils eine partizipative, dezentral ausgerichtete Kirche entwickelt hat und wie deren Umgangsweisen mit pastoralen Fragen und Lösungswegen ausschaut“. (https://www.erzbistum-koeln.de/erzbistum/pastoraler_zukunftsweg/pastorale-lernreisen/) Es ist sehr zu begrüßen, wenn deutsche Bistümer keine larmoyante Nabelschau treiben, sondern bereit sind, sich durch die ermutigenden Erfahrungen der katholischen Kirche in Lateinamerika, Afrika und Asien belehren zu lassen.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse dürfte dabei sein, dass so genannte Basisgemeinden ein reges kirchliches Leben selbst an Orten garantieren, wo Priester nur in größeren Zeitabständen präsent sind. So könnte das Modell der Basisgemeinde auch einen Weg für die katholische Kirche in Deutschland weisen. Es würde in der Tat eine „Veränderung unserer Haltungen und Rollenmuster“ voraussetzen. Daran scheint es jedoch zu hapern. Denn immer wieder hören wir den Einwand: „Noch sind die Seelsorgestrukturen bei uns in Deutschland so funktionstüchtig, dass wir auf Laien im pastoralen Dienst verzichten können.“ (Unter „Laien“ verstehen wir hier ausdrücklich nicht die hauptamtlichen Kirchenangestellten, sondern Gläubige, die sich ehrenamtlich in der Seelsorge engagieren.)

In ländlichen Regionen erzwingt der Priestermangel die Schaffung von Großpfarreien – mit der bedauerlichen Folge, dass Kirchen und Kapellen außerhalb der neuen Zentren zu verwaisen drohen. Diese Entwicklung kann nicht im Sinne von Kardinal Woelki sein. Wenn wir ihn richtig verstehen, geht es ihm gerade darum, die unvermeidliche administrative Zentralisierung auf der einen Seite durch Dezentralisierung der Seelsorge auf der anderen Seite auszubalancieren.

Es geht, kurz gesagt, darum, die Verankerung der Seelsorge in der Lebenswelt der Gläubigen – an der Basis – zu erhalten. Wer sich darüber mokiert, dass die Leute „nur auf den eigenen Kirchturm schauen“, hat nicht verstanden, dass gerade für die Kirche der Grundsatz „Global denken – lokal handeln“ von existenzieller Bedeutung ist. Gewiss, mein Nächster lebt in Lateinamerika, Afrika und Asien – aber eben auch in meiner direkten Nachbarschaft. Zu den in Betracht kommenden Handlungsfeldern gehört jegliche Art von Dienst, für dessen Ausübung keine Priesterweihe erforderlich ist. Das gilt für die Jugendarbeit (z.B. Vorbereitung auf die Erstkommunion) und die Spendung der Krankenkommunion ebenso wie für die Gestaltung von Wortgottesfeiern in Kirchen und Kapellen an der Pfarrperipherie.

Religiöse Erfahrungen und Begegnungen in privaten Zirkeln, Bibelkreisen etc. sind zwar wertvoll, aber sie können die öffentliche – d.h. allgemein zugängliche – Präsenz von Kirche nicht ersetzen. Eine solche Präsenz zu garantieren wird (zunehmend) die Aufgabe von Basisgemeinden sein. In der Praxis vieler Pfarreien fehlt es anscheinend jedoch an einer Kultur der Ermutigung, die das ehrenamtliche Engagement von Laien in der Seelsorge ernsthaft fördert. Wenn es hoch kommt, gibt es eine Kultur der Duldung. Duldung impliziert freilich, dass es in Wahrheit nur um Not- und Ersatzlösungen geht, die abgeschafft werden können, wenn, so Gott will, die Zeiten wieder besser werden.

Woran hakt es? Wir begegnen einer tief sitzenden Furcht davor, dass ehramtliche Seelsorge durch Laien in den Kernbereich priesterlicher Zuständigkeiten eindringen könnte. Die Furcht vor dem „Dammbruch“ lähmt. Wir hören diese Bedenken nicht nur von Priestern, sondern auch von „konservativ“ eingestellten Mitkatholiken. Doch damit wird ausgerechnet den (noch) aktiven Teilen des Kirchenvolks ein Mangel an Unterscheidungsvermögen unterstellt.

Kleinmut war den Autoren der Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils fremd. „Lumen gentium“ unterscheidet zwischen dem „gemeinsamen Priestertum der Gläubigen“ und dem „hierarchischen Priestertum“. Zugleich betont es, das eine wie das andere nehme „je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil“. Seelsorge ist, mit anderen Worten, eine Aufgabe aller Christen. Wir Laien sind – zugespitzt formuliert – nicht nur Konsumenten seelsorglicher Dienstleitungen. Als Mütter und Väter, als Töchter und Söhne, als Verwandte, als Nachbarn und in vielen anderen zwischenmenschlichen Bezügen sind wir Experten darin, anderen Ermutigung, Zuspruch und Trost zu spenden und so auch unseren Glauben zu verkündigen.

Nun hören wir gelegentlich den Einwand, mit den Aussagen über das „gemeinsame Priestertum der Gläubigen“ sei das Zweite Vatikanische Konzil gerade nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Heute trenne sich eben die Spreu vom Weizen, und es bleibe die „kleine Herde“ entschiedener Christen – der „heilige Rest“, in dem noch das Feuer des wahren Glaubens brenne. Das ist theologisch falsch, aber wir beschränken uns hier auf eine pragmatische Entgegnung: Glaubt jemand im Ernst, der „heilige Rest“ strahle auf die Welt aus? Glaubt jemand im Ernst, das Christentum wäre als kleingläubige Sekte zu einer Weltreligion geworden?

Wir erleben zurzeit, wie die alten volkskirchlichen Strukturen zusammenbrechen – manchmal im Zeitlupentempo, manchmal in kurzer Frist. Es stimmt, auch sinnentleerte kulturkatholische Folklore gehört dazu. Aber glauben die Anhänger der Lehre vom „heiligen Rest“ wirklich, das deutsche Kirchensteuersystem lasse sich noch aufrechterhalten, wenn es nur noch dazu dient, dass die „Spreu“ den „Weizen“ alimentiert? So mancher „Konservative“, der heute über das enge Beziehungsgeflecht zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik lästert, wird sich noch die Augen reiben, wenn eines Tages sein Traum vom Ende der Volkskirche (den er mit vielen radikalen Laizisten teilt) in Erfüllung geht.

Die von Kardinal Woelki geforderte „Veränderung unserer Haltungen und Rollenmuster“ braucht Mut, sie braucht Vertrauen in die Zukunft. Und sie verträgt kein langes Zuwarten mehr. Nach unserer Beobachtung gibt es bei den Laien viel ungenutztes Potenzial, das für eine ehrenamtliche Seelsorge auf lokaler Ebene mobilisiert werden könnte. Was bislang als Not- und Ersatzlösung galt, könnte so zu einer neuen, lebendigen Tradition werden. Wenn dieser Neuanfang bald nicht gelingt, wird es zu einem Kontinuitätsbruch kommen, der für die Kirche in Deutschland auf lange Sicht verheerender ist als das, was ihr heute zu schaffen macht. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren.

Michael Mertes (1953) ist Autor und literarischer Übersetzer. Von 2011 bis 2014 leitete er das Auslandsbüro Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Jerusalem.
Barbara Rembser-Mertes (1954) ist Lehrerin und und gehört dem Vorstand der Katholischen Elternschaft Deutschlands (KED) an.

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