CHRISTLICHE POLITIK

Hans Maier fordert CDU und CSU auf, den Unionsgedanken ernst zu nehmen und sich gerade deshalb neu auf das Christliche zu besinnen, weil es nicht mehr, wie früher, einfach vorausgesetzt werden kann.

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Hans Maier

Christliche Politik
Ein Streifzug durch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Christliche Politik – ein gewichtiges Wort. Wann habe ich es zuerst gehört? Das war in meiner Schü­lerzeit, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals sprach Leo Wohleb, der spätere badische Staatspräsident, im Kaufhaus in Freiburg über die aktuelle Situation. Seine Rede begann mit folgenden Sätzen:

„Das Spiel vom Antichrist ist aus. Es hat geendet, wie es enden musste: Die Teufel sind wieder in der Hölle verschwunden, die Götzen von ihren Sockeln herabgestürzt, und gesiegt hat über die Lüge der wahrhaftige Gott, über Verbrechen und Gewalttaten Gottes Gerechtigkeit, und Not und Elend wird Gottes Barmherzigkeit wenden.“

„Zuviel Pathos!“ – so reagieren wir heute, wenn wir so etwas hören. Aber damals war dieser Ton weit verbreitet; in mehreren der in dieser Zeit entstandenen Landesverfassungen herrscht er vor. So gibt sich Bayern 1946 eine demokratische Verfassung – ich zitiere – „angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat“. Und drei Jahre später beginnt das Grundgesetz wie bekannt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“

Also: Abscheu gegenüber der „gottlosen“ Vergangenheit, Besinnung auf Gott, den Schöpfer und Er­halter der Menschheit, Forderungen nach einer christlichen Politik in Gegenwart und Zukunft – das war der politische Grundton in jener Zeit. In der Schrecksekunde nach dem Zusammenbruch erschi­en Politik aus christlicher Verantwortung als ein Gebot der Stunde. Und diese Stimmung reichte weit über den Kreis der Kirchentreuen, religiös Gebundenen hinaus.

Es blieb nicht bei verbalen Bekenntnissen und Vorsätzen. Man suchte nach konkreten Formen politi­scher Realisierung des Christlichen. 1945/46 wurde die christlich-demokratische und die christlich-so­ziale Union gegründet. Ihre Gründung hatte einen doppelten Zweck: Es galt die Weimarer Parteien­zersplitterung durch eine Sammlung in der Mitte zu überwinden – und es galt der jahrhundertealten konfessionellen Trennung die politische Zusammenarbeit der Konfessionen entgegenzusetzen.

Die CDU/CSU war eine Nova am deutschen Parteienhimmel. Zum ersten Mal erschien das Wort „christlich“ in einem Parteinamen (wenn man vom evangelischen „Christlich-Sozialen Volksdienst“, einer kleinen Partei der Weimarer Zeit, absieht). Das war neu und sicherlich ein Wagnis. Das Wort „Union“ zielte nicht nur auf die Parteiorganisation, es hatte auch einen ökumenischen Hintergrund. Mein historischer Lehrer Gerhard Ritter, ein evangelischer Christ und Widerstandskämpfer, der 1944/45 mit knapper Not dem Galgen entgangen war, hat uns Studenten oft geschildert, wie sich evangelische und katholische Gefangene in Berlin nach ihrer Befreiung im April 1945 in den Armen lagen: „Das war“, so pflegte er zu sagen, „der Anfang der Union.“

Zwischen den Konfessionen wurde vieles anders nach dem 8. Mai 1945. Die alten geschlossenen Kon­fessionsgebiete verschwanden, lösten sich auf in der riesigen Wanderungs- und Mischungsbewegung der deutschen Bevölkerung 1944-1947. Das Zeitalter des Cuius regio eius religio ging zu Ende. Wech­selseitige Rücksicht zwischen den Kirchen entwickelte sich. Es kam zu interkonfessionellen Initiativen. Sie traten an die Stelle des alten Nebeneinander – oft auch Gegeneinander – der Bekenntnisse. Auch in den Ausdrucks- und Wirkungsformen übernahm man jetzt vieles voneinander: so traten seit 1949 Evangelische Kirchentage neben die schon hundert Jahre alten Katholikentage. Umgekehrt übernah­men die Katholiken von den Evangelischen die Einrichtung kirchlicher Akademien – so ist z. B. die Evangelische Akademie Tutzing ein volles Jahrzehnt älter als die Katholischen Akademie in Bayern.

Die neuen Initiativen wurden in den fünfziger Jahren vor allem in der Außenpolitik spürbar. Die eu­ropäische Integration wurde zu einem zentralen Kennzeichen, einem Markenzeichen der christlichen Demokratie, in Frankreich, Italien, Deutschland und den Beneluxländern. Gemeinsam mit Robert Schuman, Alcide De Gasperi, Joseph Bech, Paul-Henri Spaak unternahm es Konrad Adenauer, den ge­schlagenen Deutschen eine neue Heimat in der europäischen Gemeinschaft zu geben. Definitiv schlug die deutsche Politik den Weg nach Westen ein; er sollte sich bald als endgültig und unumkehr­bar erweisen. Spätere Bundeskanzler haben dann ähnliche Wege nach Osten gebahnt – so Brandt, Scheel und Schmidt. Helmut Kohl gelang schließlich – auf den Spuren Adenauers – die Wiedervereini­gung der getrennten Teile Deutschlands und Hand in Hand damit die offizielle Beendigung des Krie­ges in Gestalt des 2+4-Vertrages. Wir stehen heute mitteninne in der – bislang – längsten Friedenspe­riode unserer Geschichte, ohne Gegner oder gar Feinde an unseren Grenzen – vielmehr, wie man zu­recht gesagt hat, „umzingelt von Freunden“.

Ich will hier keinen Abriss der deutschen Nachkriegspolitik geben. Aber ich sehe die Anstöße, die ich in meiner Jugend erlebte, bis heute in der deutschen Politik weiterwirken, auch wenn sich manches im Lauf der Zeit abgeschwächt und routinisiert hat. Die Haltung Deutschlands in der europäischen Flüchtlingsfrage 2015/16, die generelle Offenheit gegenüber Schutz- und Hilfesuchenden, erscheint mir als konsequente Fortsetzung jener Hinwendung zu Europa in den Fünfzigerjahren. Sie macht deutlich, dass für ein geeintes, der Humanität verpflichtetes verpflichtetes Europa Freiheit nicht nur im Inneren gilt, sondern auch Wirkungen nach draußen entfaltet. Notabene: Alle diese Anstöße, da­mals wie heute, gingen und gehen von Politikern aus, die sich als Christen bekennen, die zum min­desten ein persönliches Verhältnis zur christlichen Überlieferung haben. Unter den 11 Bundespräsi­denten und den 8 Bundeskanzlern der Bundesrepublik Deutschland war bisher kein dezidierter Nicht-Christ.

Da ich in der Adenauerzeit politisch geprägt wurde, da ich einer christlich-sozialen Partei angehöre und da ich einen Teil meines Lebenswerkes der Erforschung der christlichen Demokratie gewidmet habe, bin ich auch sensibel, wenn sich Grundsätzliches verändert, wenn Fundamente einbrechen, die lange Zeit als fest, ja unerschütterlich galten. Das betrifft nicht nur das C, das Christliche, es betrifft auch das U, die Union.

Dass christliche Werte in der Öffentlichkeit schwächer werden, wenn die Kirchen laufend Mitglieder verlieren, das ist ein wohl unvermeidlicher Prozess. Er geht eher schleichend als in großen Schüben und Stößen vor sich. Noch umfassen die großen Kirchen annähernd zwei Drittel der Bevölkerung. Noch hat sich unser vom Christentum geprägter Jahres-Festkalender kaum verändert. Feste kirchli­chen Ursprungs und christliche Rituale umgeben nach wie vor die „Passagen“ unseres Lebens, wenn auch ihr Einfluss nicht mehr so deutlich spürbar wird wie früher und vieles inzwischen einfach ein Stück Gewohnheit ist. Aber wir leben noch immer in einer Welt, die vom christlichen Verständnis des Lebens geprägt ist: Nicht nur, dass wir unsere Jahre nach Christi Geburt datieren, wir empfinden auch unser Leben, christlicher Vorstellung folgend, als einen einmaligen, unumkehrbaren, unwiederholba­ren Akt, als ein Geschehen, für das wir Verantwortung tragen und das auch unsere unmittelbare Um­gebung verpflichtet. Die nachreligiöse Gesellschaft, in die wir uns hineinbewegen, ist keine irreligiöse Gesellschaft; sie hat sich nur von ihren religiösen Ursprüngen entfernt – manchmal so weit, dass sie zwar noch deren Wirkungen wahrnimmt, aber den dahinterliegenden Sinn nicht mehr erkennen und weitervermitteln kann.

Das schwindende Christliche lässt auch eine Partei nicht unberührt, die sich nach ihm benennt. Trägt es noch genügend, ist es noch breit und stark genug? Oder ist es nur noch eine verblassende Erinne­rung, sollte man das also das C ehrlicherweise aus dem Parteinamen streichen? Ich bin dagegen, dass man es tut. Aber man muss sich bewusst sein, dass die vorpolitische Stärke des Christlichen, wie sie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bestand – als Reaktion auf den „Antichrist“, wie man da­mals empfand -, im Jahr 2016 nicht mehr so unmittelbar und direkt gegeben ist. Also kann man das Christliche nicht mehr, wie früher, einfach voraussetzen, man muss sich neu darauf besinnen, muss es neu zu formulieren versuchen. Was uns trägt, muss sichtbar gemacht, muss vergegenwärtigt wer­den. Hier müssen wir unkonventionelle neue Mittel und Wege finden. Steht doch für große Teile Eu­ropas ohnehin der Versuch einer Neuevangelisierung an. Sonst gerät der Kontinent ins Abseits in ei­ner Welt, in der das Religiöse neue, oft verzehrende Kraft gewinnt.

Größere Sorge macht mir im Augenblick die Krise der Union. Es ist eine politische Krise; denn die öku­menische Seite hat ihre Bewährungsprobe längst bestanden; hat doch gerade die Flüchtlingsfrage die beiden Kirchen in Deutschland enger zusammengeführt als je zuvor. Doch der überflüssige Streit zwischen CSU und CDU droht die dringend notwendige Gemeinsamkeit zu erschüttern. Alte Illusio­nen feiern fröhliche Wiederkehr – so die Meinung, man könne mehr Wähler erreichen, wenn man getrennt statt vereint marschiert. Doch bei Parteien, die sich beide christlich nennen, heißt getrennt marschieren notwendig: gegeneinander marschieren. Und kein Kampf ist erbitterter als der Kampf um die selben Wähler.

Überschätze ich den Symbolwert des Wortes Union? Ich meine nicht. Für mich reicht Union über die Parteipolitik hinaus. Es markiert einen geschichtlichen Neuanfang nach vierhundert Jahren konfessio­neller Zerklüftung – und es hat Bedeutung auch für den landsmannschaftlichen und politischen Zu­sammenhalt von Süd und Nord, von bayerischen und außerbayerischen Traditionen. Union, das heißt Gemeinsamkeiten suchen, statt Unterschiede zu betonen. Ich hoffe sehr, dass die Vernunft noch vor der nächsten Bundestagswahl zurückkehrt und dass die Kontinuität erhalten bleibt, die Deutschlands politischen Weg in und mit Europa in vielen Nachkriegsjahrzehnten ausgezeichnet hat.

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-U­niversität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus so­wie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universi­tät München (Guardini Lehrstuhl).

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