DIE PLEBISZITFALLE

Stephan Eisel weist anlässlich des britischen Referendums zum EU-Austritt daraufhin, dass plebiszitäre Verfahren höchst problematisch sind und die repräsentative Demokratie deutlich überlegen ist.

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Stephan Eisel

Die Plebiszitfalle

Sieben Gründe für die Überlegenheit der repräsentativen Demokratie

Am 23. Juni 2016 haben die Wähler im United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland in einem Referendum mit knapper Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union votiert: 51,9 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf  „LEAVE“ und 48,1 Prozent auf „REMAIN“. Die Wahlbeteiligung lag bei 72,2 Prozent.

Selbst bisher überzeugte Anhänger der sog. „direkten“ Demokratie sind nach dieser Volksabstimmung nachdenklich geworden: Wie in einem Brennglas wurde am britischen Beispiel deutlich, dass Plebiszite höchst  problematische Wege demokratischer Entscheidungsfindung sind.  Vor allem sieben Aspekte zeigen, dass plebiszitäre Verfahren nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie führen und der repräsentativen Demokratie unterlegen sind:

1) Plebiszite entlassen die Verursacher einer Entscheidung aus der Verantwortung  für die Folgen

Innerhalb von nur einer Woche nach der Abstimmung über den EU-Austritt haben die wesentlichen Protagonisten der LEAVE-Kampagne die Bühne durch den Hinterausgang verlassen. In einer sehr personalisierten Kampagne hatten sich die Wortführer Boris Johnson und Nigel Ferage zunächst selbst medial in den Mittelpunkt gestellt.  Dann weigerten die sich, die Verantwortung für die vielen Versprechen zu übernehmen, die sie vor der Abstimmung  gemacht hatten.  Sie hatten die Menschen zu einem Votum geführt, mit dessen Folgen sie als Wortführer selbst jetzt nichts mehr zu tun haben wollten. Kaum lag das Ergebnis vor, vermittelten sie den Eindruck, dass ihnen der eigene Erfolg suspekt war. Das unterscheidet Plebiszite wesentlich von Wahlen: Wer gewählt ist, muss sich nach den Wahlen für das verantwortlich machen lassen, was er vor Wahlen versprochen hat.

2) Plebiszite reduzieren komplexe Sachverhalte irreführend auf  verkürzende Ja/Nein-Fragen

Zwangsläufig eignen sich plebiszitäre Verfahren nicht zur Differenzierung: Auf dem Stimmzettel reduziert sich die Entscheidung auf „Ja“ oder „Nein“.  So wird der Eindruck vermittelt, komplizierte Fragen seien einfach zu beantworten. Umso größer ist die Ernüchterung, wenn sich die reale Welt nach einem Votum doch nicht in einer Schwarz-Weiß-Schablone darstellt. Exemplarisch wird dies daran deutlich, dass offenbar niemand nach dem LEAVE-Votum der EU den Austrittswunsch offiziell mitteilen will, sondern jetzt allseits informelle Gespräche über die Bedingungen eines Austritts gefordert werden. Der Bevölkerung wurde eine einfache Entscheidungslage vorgetäuscht. Kaum war die Abstimmung vorbei, fordert man Gespräche, weil das Thema so viele Facetten habe. Im  parlamentarischen Alltag findet die Befassung mit den Einzelheiten vor und nicht nach der Entscheidung statt. Die Arbeit der Ausschüsse bereitet die Abstimmungen des Plenums vor und macht so rechtzeitig  vor Entscheidungen deren Komplexität deutlich.

3) Plebiszite lassen sich leicht für sachfremde Themen instrumentalisieren

Das britische EU-Referendum hatte einen sachfremden Ursprung. Premierminister Cameron beraumte es an, um damit die europafeindliche Opposition in seiner eigenen konservativen Partei zu bändigen. Das Referendum war insofern auch ein Zeugnis eigener Führungsschwäche und Entscheidungsflucht.  Dass sich Boris Johnson als Camerons größter innerparteilicher Widersacher zur Leitfigur der LEAVE-Kampagne aufschwang, hatte sicher nicht zuletzt mit eigenen Ambitionen auf Downing Street 10 zu tun. Zu einem nicht unerheblichen Teil war das EU-Referendum in der Geiselhaft parteiinterner Machtkämpfe bei den Konservativen. In Parlamenten sind solche Machtkämpfe in oder zwischen Regierungsparteien zwar nicht ausgeschlossen, werden aber letztlich durch die Verknüpfung von Sachabstimmungen mit Vertrauensfragen offen zum Abstimmungsgegenstand.

4) Plebiszite wirken wie Magnete für Protestwähler

Die britische Abstimmung hat erneut belegt, wie schnell Plebiszite unabhängig vom eigentlichen Thema zum Ventil für die unterschiedlichsten Proteststimmungen werden können. Manchen ging es mit ihrer LEAVE-Stimme um einen Denkzettel für die amtierende Regierung, viele wollten ihre Enttäuschung über die eigene soziale Lage zum Ausdruck bringen.  Das aktuelle Thema Einwanderung überlagerte die Grundsatzfrage der EU-Mitgliedschaft, die damit nur sehr bedingt zu tun hat. Die Protagonisten der LEAVE-Kampagne griffen all diese Themen allgemeiner Unzufriedenheit gerne auf und befreiten sich so von einer themenorientierten Sachdebatte. Natürlich können auch Wahlen von Proteststimmungen beeinflusst werden, aber gewählte Parlamente können sich der Notwendigkeit von  sachorientierten Entscheidungen nicht dauerhaft entziehen.

5) Plebiszite laden Demagogen ein

Demagogen fühlen sich bei Plebisziten besonders wohl, weil sie keine Verantwortung  für die Folgen ihres Tuns tragen, Ja/nein-Alternativen eine einfache Welt vorspiegeln und frustrierte Protestwähler besonders anfällig für populistische Irreführungen sind.  Es ist frappierend wie unverblümt selbst  diejenigen, die beim britischen Referendum  Unwahrheiten verbreitet und falsche Versprechungen gemacht haben,  schon am Tag nach der Abstimmung zugaben, dass alles nicht so ernst gemeint gewesen sei. Demagogie ist allerdings auch bei Wahlen nicht ausgeschlossen, insbesondere wo es sich um Direktwahlen, also personenbezogene Plebiszite handelt. Dennoch schafft die der repräsentativen Demokratie wesenseigene Aussicht auf die Übernahme von Verantwortung  für die Folgen eigener Aussagen Rechtfertigungsdruck zugunsten von Realitätsbezogenheit.

6) Plebiszite sind nur schwer korrigierbar

Verändern sich die Entscheidungsvoraussetzungen sind Plebiszite nicht so einfach zu korrigieren wie Parlamentsentscheidungen. Die Reaktion der Briten nach dem Referendum („Hätten wir das gewusst“) legt den Verdacht nahe, dass die Abstimmung  in Kenntnis des Ergebnisses anders ausgegangen wäre.  Aber plebiszitäre  Abstimmungen können schon wegen des hohen organisatorischen Aufwands nicht einfach wiederholt werden. Parlamente können wesentlich flexibler reagieren, wenn die Umstände eine Neubewertung der Situation nahelegen. Plebisziten sind solche Korrekturen wesensfremd.

7) Plebiszite eignen sich nicht zum Interessensausgleich

In ihrer systemimmanenten Vereinfachungstendenz sind plebiszitäre Verfahren für Minderheiten gefährlich. Das britische Referendum hat dies im Blick auf Schotten und Nordiren erneut belegt. Sie wehren sich nach dem Votum dagegen, den EU-Austritt zu vollziehen, der bei ihnen von einer Mehrheit abgelehnt wurde.  Dem hätte man dadurch entgegentreten können, dass ein Referendumserfolg an die Zustimmung  aller Teile des  United Kingdom (England, Wales, Schottland und Nordirland) geknüpft worden wäre.  Das Grundgesetz sieht zwar ein solches Verfahren bei den Volksabstimmungen zur Länderneugliederung vor, aber Plebisziten sind solche Differenzierungen eigentlich wesensfremd:  Sie setzen im Unterschied zu Parlamenten nicht auf Interessensausgleich, sondern auf die Wucht der Mehrheitsentscheidung. Das zeigt sich in Großbritannien auch im Blick  auf die junge Generation, die zwar die Hauptlast der Folgen eines EU-Austritts zu tragen hat, bei der Entscheidung selbst aber – auch wegen der eigenen geringeren Wahlbeteiligung – eher eine Randrolle spielte.

 

 

In Deutschland  steht die Forderung nach immer mehr „direkter“ Demokratie hoch im Kurs. Wer Plebiszite problematisiert, sieht sich schnell in der Defensive.  Plebiszitäre Verfahren sind inzwischen in allen Bundesländern bei Sachfragen auf kommunaler Ebene (Bürgerbegehren und –entscheide) und Landesebene (Volksbegehren und –entscheide) möglich. In Personalfragen sehen fast alle Bundesländer die Direktwahl von (Ober)bürgermeistern und Landräten als plebiszitäre Verfahren vor.  Lediglich das Grundgesetz begrenzt sie mit eng gefassten Regeln auf die Frage der Länderneugliederung. 

 

Allerdings ist auffällig, dass die Beteiligung an plebiszitären Verfahren in Deutschland sowohl in Sach-  als auch Personalfragen regelmäßig um 20 – 30 Prozent niedriger ist als bei entsprechenden Parlamentswahlen.

Meinungsumfragen zeigen, dass 94 Prozent der Bundesbürger in Wahlen die beste Form der politischen Beteiligung sehen. Fast ein Drittel lehnen plebiszitäre Verfahren grundsätzlich ab.  Diese Plebiszit-Skepsis der Deutschen wird durch die konkreten Erfahrungen beim britischen Referendum ebenso bestätigt wie die Weitsicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes: Die repräsentative Demokratie ist der Plebiszitären weit überlegen. Die britischen Erfahrungen zeigen erneut, dass es keinen Grund gibt, daran zu zweifeln.

 

Dr. Stephan Eisel (1955) war als Mitglied des Deutschen Bundestages bis 2009 Mitglied im Euro­paauschuss und u. a. 1983- 1992 zunächst als Redenschreiber und dann als stv. Leiter des Kanzlerbü­ros Mitarbeiter von Helmut Kohl. Seit 2010 ist er in der Konrad-Adenauer-Stif­tung Projektleiter für „Internet und Demokratie“ so­wie „Bürgerbeteiligung“. Er ist verant­wortlicher Redak­teur des Blogs für politisches Handeln aus christlicher Verantwortung kreuz-und -quer.­de

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