SICHERHEIT UND FREIE GESELLSCHAFT

Stephan J. Kramer fordert ein wirkungsvolleres Vorgehen gegen diejenigen vor, die unsere demokratische Ordnung zerstören wollen. Der Staat habe die Verpflichtung, Extremisten und Verfassungsfeinde unter Kontrolle zu halten, damit verfassungskonforme Bürger in ihre Rechte wahrnehmen können.

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Stephan J. Kramer

Sicherheit und freie Gesellschaft

Die Gefahren denen sich unser Demokratie und unsere freie Gesellschaft heute gegenübersehen, sind vielfältig. Die Öffnung der Grenzen, veränderte Informations- und Kommunikationsstrukturen, und ein von Mobilität und Technisierung geprägter gesellschaftlicher Wandel bedeuten für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auf der einen Seite ein nie gekanntes Maß an Freiheit, Freizügigkeit und Komfort. Auf der anderen Seite ist eine umfassende und konsequente Weiterentwicklung der Sicherheitsstrategie und Sicherheitsinstrumente erforderlich, um den ebenfalls bestehenden, mit dieser Entwicklung einhergehenden Herausforderungen angemessen zu begegnen.

Wer heute sein Land, seine Bürgerinnen und Bürger sowie seine Unternehmen gegen die Sicherheitsrisiken der Informations- und Wissensgesellschaft schützen will, der wappnet sich gegen nationalen und internationalen Terrorismus und Extremismus, gegen international organisierte Kriminalität, staatlich organisierte Desinformation und Destabilisierung aus dem Ausland und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Auch der Schutz kritischer Infrastrukturen, die Cybersicherheit und die Abwehr bzw. Bekämpfung der Wirtschafts- und Industriespionage spielen eine immer größere Rolle.

Die Sicherheit im Innern zu gewährleisten, ist eine Kernaufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Hierauf gründet ein wesentlicher Teil seiner Legitimation. Sicherheit wird in den heutigen vernetzten Gesellschaften darüber hinaus mehr denn je zum Indikator von individueller und kollektiver Freiheit und damit Lebensqualität.

Uns muss klar sein, dass die Feinde der offenen Gesellschaft mitten unter uns sind; seien es Rechtsradikale, die Asylantenheime mit Molotowcocktails bewerfen und die sie unterstützenden Gruppen, Parteien oder Menschen; seien es jene, die nach einer autoritären Regierungsform rufen oder die Demokratie als Gesellschaftssystem und den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol gänzlich in Frage stellen.

Der Extremismus stellt eine besondere Gefahr für die freie Gesellschaft dar, weil er seinen jeweiligen Standpunkt, seine jeweilige Ideologie, der Gesellschaft mit Gewalt aufzwingen will. Um jedoch eine freie Gesellschaft zu bleiben und vor allem Sicherheit in Freiheit für die Bürger zu gewährleisten, ist es nötig, den unterschiedlichen Formen des Extremismus eine klare Abfuhr zu erteilen. Nicht umsonst besagt das bekannte Diktum: die Weimarer Republik ist nicht an der Vielzahl der Nazis, sondern an der ungenügenden Zahl der Demokraten gescheitert, die nicht für die Freiheit auf die Straße gegangen sind. Wir haben es ganz aktuell mit drei unterschiedlichen Formen des Extremismus in Deutschland zu tun: Islamismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus.

Auf das Konto radikaler Islamisten geht eine Kette brutaler Terroranschläge zurück. Die Bomben, die am 22. März auf dem Flughafen und in einer zentralen Metro Station in Brüssel explodiert sind, haben mehr als 30 Todesopfer und hunderte Verletzte gefordert. Das ist vorläufig nur das letzte Glied in einer unheilvollen Kette von grausamen und brutalen Terroranschlägen, die ganz Europa – auch Deutschland – erschüttert hat und hier scheinbar zur neuen Normalität geworden ist.

Mit Anschlägen in Paris, Brüssel, London oder vielleicht demnächst auch Berlin und Rom liefern die Terroristen den blutigen Beweis, dass sie die Drohung, nämlich den Kampf gegen die angeblichen Feinde des Islam in deren Heimat zu führen, wahrmachen. Mehr als 5.000 Europäer sind bisher nach Syrien in den Kampf für den IS gezogen, darunter auch rund 800 aus Deutschland. Etwa 8.000 Salafisten, die den Islam besonders konservativ und zugleich militant interpretieren wollen auch in Deutschland einen islamischen Gottesstaat errichten.

Der Islamismus ist aber bei weitem nicht die einzige Form des Extremismus, der unsere freie Gesellschaft bedroht. Im vergangenen Jahr, bis einschließlich November wurden 12.650 Delikte mit rechtsextremem Hintergrund registriert, darunter 846 Gewalttaten, wie die Wochenzeitung Die Zeit berichtete. 637 Menschen wurden dabei verletzt. Damit lagen die von der Regierung veröffentlichten Zahlen für das Jahr 2015 deutlich über den Vergleichswerten für das gesamte Jahr 2014. Laut “Süddeutscher Zeitung” konnten im vergangenen Jahr 450 Haftbefehle gegen 372 Neonazis nicht vollstreckt werden.

Das sind keine bloßen Zahlen auf dem Papier. Seit Monaten erleben wir, wie Dachstühle von Asylunterkünften brennen oder Menschen und Häuser mit Flaschen und Steinen angegriffen werden. Wir müssen erleben, wie Wahlkreisbüros von Parteien beschädigt und Fenster eingeschlagen werden. Politiker, Richter und öffentliche Bedienstete werden immer öfter angegriffen und teilweise mit Morddrohungen überzogen.

Aber auch die linksautonome Szene wird immer gewalttätiger. Rechtsfreie Räume dieser Szene haben sich längst in allen deutschen Großstädten gebildet. Von hier planen sie Demos und Gewaltorgien mit Verletzten und abgefackelten Fahrzeugen. Hier werden Polizisten mit Pflastersteinen beworfen und nicht nur Verkehrsaufseher regelmäßig verprügelt. Allein in Berlin stieg die Zahl linkspolitisch motivierter Straftaten im Jahr 2015 um ein Drittel auf 1350, die Gewaltdelikte legten sogar um zwei Drittel zu – auf 480, wie das Magazin FOCUS berichtete. Berlins Innensenator Henkel sprach von “Terroraktionen”, nachdem ein Mob zwei Nächte in Folge randalierend durch die Straßen zog und wahllos Autos abfackelte. Immer häufiger richten sich die Exzesse aber auch gegen Menschen. Standen einst nur Ordnungshüter, „Spekulanten“ oder Rechtsradikale im Fadenkreuz der Szene, sind inzwischen selbst Politiker von SPD und Grünen nicht mehr sicher. “Viele der Autonomen sind eher auf der Suche nach einem Bürgerkriegserlebnis, nach dem Kick der Gewalt, als nach politischen Veränderungen”, fasst der Extremismus-Experte Werner Patzelt die Lage zusammen.

Heute, mehr denn je, muss sich unsere freie Gesellschaft gegen Extremisten wehren. Dafür gibt es viele Mittel und viele Wege, die nicht etwa alternativ zueinander sondern im Verbund benutzt werden müssen: kompromisslose Beachtung der demokratischen Spielregeln im politischen Leben, Toleranz und Respekt in der politischen Auseinandersetzung, Politische Bildung, Vermittlung demokratischer Werte und Abwehr des Extremismus bereits im Schulwesen, eine freie und unabhängige Presse. Wenn wir uns zwischen Sicherheit und Freiheit entscheiden müssen, dann heißt dies nicht entweder oder, sondern sowohl als auch!

Eine Gesellschaft bzw. ihre einzelnen Angehörigen können aber nur soweit frei sein, wie sie die tatsächliche Möglichkeit haben, ihre demokratischen Rechte auszuüben. Deswegen ist in einer demokratischen Gesellschaft das Begriffspaar Freiheit und Sicherheit keineswegs ein Gegensatz. Ein solcher Gegensatz existiert nur in Diktaturen, wo die Sicherheit des Staates gegen die Freiheiten der Bürger geschützt werden muss. Die Folge ist Unterdrückung. Ein Extremfall der Machtübernahme durch Extremisten.

In einer freien Gesellschaft hingegen benötigt der Bürger Sicherheiten. Man stelle sich nur vor, ein Gotteshaus werde durch Terroristen bedroht, vom Staat aber nicht genügend geschützt. Die Angehörigen der jeweiligen Religionsgemeinschaft trauen sich nicht mehr ihren Gottesdienst aufzusuchen. Wo bleibt da das Recht auf Religionsfreiheit? Oder wenn liberale Bürger in einer Kleinstadt durch Neonazis so eingeschüchtert werden, dass sie aus Angst um sich selbst oder ihre Kinder lieber schweigen? Wo bleibt da das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Beispiele ließen sich mehren.

Daher sollten in einer demokratischen Gesellschaft Politik, Behörden und Bürger eigentlich am selben Strang ziehen, wenn es darum geht gegen Extremisten zu kämpfen. Gewiss man muss sich dabei auch kritisch gegenseitig beobachten. Die Bürger wollen sicherstellen dass übereifrige Behörden keinen gläsernen Bürger schaffen. Die Sicherheitsbehörden müssen hingegen angemessen personell und materiell ausgestattet werden und auch das nötige Vertrauen spüren, um einen wirksamen Beitrag zur Sicherheit und damit Freiheit für uns alle leisten zu können.

Die Mehrheitsgesellschaft, wie auch unser Rechtssystem und unsere Sicherheitsbehörden müssen wirkungsvoller gegen diejenigen vorgehen, die unsere demokratische Ordnung zerstören wollen.

Die Behörden haben die Verpflichtung, Extremisten und Verfassungsfeinde unter Kontrolle zu halten, gerade damit die gesetzestreuen, die verfassungskonformen Bürger ihre Rechte tatsächlich wahrnehmen können und nicht nur theoretisch dürfen.

Daraus ergibt sich ein gewisses nicht einfaches aber doch schlüssiges Konzept, demzufolge die Abwehr des Extremismus nicht das Recht sondern die Pflicht der Gesellschaft wie des Staates ist.

Auf dem Fundament einer rationalen und humanitären Politik können sich unsere westlichen Demokratien selbstbewusst aber nicht überheblich, als freieste und gerechteste, wenn auch ständig zu reformierende, Gesellschaften verstehen.

Stephan J. Kramer (1968) ist seit Dezember 2015 Präsident des Verfassungsschutzamtes in Thüringen. Zuvor war er 2004-2014 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, sowie u.a. Leiter des Berliner Büros des European Jewish Congress das politische jüdische Leben in Deutschland und Direktor für das American Jewish Comitee in Brüssel. Ignatz Bubis hatte ihn 1998 zu seinem persönlichen Referenten gemacht. Nach seinem Jura- und Volkswirtschaftsstudium in Marburg, Frankfurt a. M. und Bonn hatte er seine berufliche Tätigkeit als Mitarbeiter in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages, u. a. beim langjährigen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Hans Stercken, begonnen.

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