VIRTUELL – SYMBOLISCH – REAL ALS MODERNE GEWALTSPIRALE

Stephan Eisel warnt davor, das im Internet um sich greifende digitale Faustrecht oder Gewaltsymbolik bei Demonstrationen zu verharmlosen und sieht darin eine Vorstufe zur realen Gewaltanwendung.

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Stephan Eisel

Virtuell – symbolisch –real als moderne Gewaltspirale

Oktober 2015 in Deutschland: Der reale Messerangriff auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker, Demonstrationen mit der medial verstärkten Symbolik von Galgendrohungen gegen Kanzlerin Angela Merkel oder einem blutverschmierten Schafott gegen Vizekanzler Sigmar Gabriel und staatsanwalt­schaftliche Ermittlungen gegen drei Facebook-Manager wegen der Duldung volksverhetzender Kom­mentare auf der Online-Plattform.

So verschieden diese Ereignisse auch sein mögen, sie sind verbunden durch ihren Gewaltcharakter und offenbaren einmal mehr: Wo Gewalt verharmlost wird, lassen sich die virtuelle, symbolische und reale Dimension nicht voneinander trennen, sondern greifen ineinander.

„Wehret den Anfängen!“ („Principiis obsta“) hatte der römische Dichter Ovid in den Jahren um Christi Geburt als allgemeine Lebensweisheit aufgeschrieben und hinzugefügt: „Zu spät wird die Me­dizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“ Nirgends gilt dieses Diktum mehr als dort, wo Gewalt in einer demokratischen Gesellschaft zunächst scheinbar nur theoretisch verharmlost oder angeblich nur symbolisch angedroht wird.

Dafür bietet das Internet eine Plattform, deren Gefährlichkeit nicht ignoriert werden darf. Bei allen Vorteilen, die das Netz für die Meinungs- und Informationsfreiheit bietet, finden dort auch Radikali­sierung, Extremismus, Hass und Gewaltverharmlosung einen besonde­ren Nährboden.

Begünstigend wirken dabei einige typische Charakteristika der Netzkultur:

So manifestiert sich die Ambivalenz des Internets auch in der Spannung zwischen globaler Öffnung und der Abschottung im Gewohnten. Zwar schafft der Cyberspace Ge­meinschaft über Grenzen hin­weg, indem es Menschen miteinander verbindet, die we­gen großer Entfernungen nur über das Netz Kontakt halten können oder sich erst im Internet kennenlernen. Zugleich er­möglicht es das Internet aber auch, für die glo­balisierte Kontaktaufnahme das sichere Zu­hause nicht verlassen zu müssen und die Kommunikation auf Vertrautes zu beschränken. Im Netz lässt sich eben nicht nur viel Neues ent­decken, sondern es lassen sich auch Mauern ge­gen das Unbekannte errichten.

So ist der grenzenlose Cyberspace auch eine Mosaikgesellschaft, die in einer Vielzahl kleinster Teilöf­fentlichkeiten das Bedürfnis vieler Internetnutzer bedient, vor allem Gleichgesinnte zu finden. In der damit verbundenen Erfahrungsverdünnung liegt auch eine Herausforderung für die freiheitliche De­mokratie. Wo Gleichgesinnte abgeschot­tet von Andersdenkenden überwie­gend einander begegnen, gedeiht leicht Radika­lität, Extremismus und Ideologie.

Auf diesem Nährboden dominiert im Netz oft die Herrschaft der Stärkeren und Lau­testen, die für sich ein digitales Faustrecht reklamieren. Ein fast prototypisches Bei­spiel dafür ist die „Anonymous“-Be­wegung. Angeblich um die Freiheit des Internets zu schützen, bedient sich die Hacker-Bewegung des größten Feindes der Freiheit: der Angst. Aus dem Lehrbuch des Totalitarismus könnten die Slogans stammen, die An­onymous-Anhänger als gemeinsames Er­kennungszeichen im Internet wie ein Mantra wiederholen: „Wir sind viele, aber Du weißt nicht wer; wir sind überall, doch du weißt nicht wo.“

Wo Hacker zur Durchsetzung ihrer Meinung gegen unliebsame Kritiker oder für vermeintlich höhere Ziele zur digitalen Selbstjustiz greifen, nutzen andere selbsternannte Weltenretter die Macht des sich gerade im Netz schnell verbreitenden hasserfüllten Wortes als virtuelle Privatgewalt. Im modernen In­ternet vollzieht sich so auch der Rückfall in das vorzivilisatori­sche Zeitalter des Faustrechts.

Praxis im Netz ist allzu oft totalitäre Attitüde der Willkür des eigenen Gutdünkens. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zu Zwang und Gewalt gegenüber Anderen. Zur Selbstver­ständlichkeit für sich Wahrheits- und Absolutheitsrechte wahrzunehmen, ge­sellt sich dabei in merk­würdigem Widerspruch die Weigerung, dafür Verantwortung zu übernehmen.

Im Netz entfaltet sich die Wirkung einer doppelten Anonymität: Übereinander zu reden war schon im­mer einfacher als miteinander. Selbst wer im Netz die eigene Identität preis­gibt, erlebt sein Gegenüber nicht persönlich fassbar, sondern eher abstrakt oder gar an­onym.Virtuell zu diskutieren ist eben nicht das Gleiche wie miteinander zu reden. Der Begegnung im Netz fehlen die sozialen Leitplanken perso­naler Interak­tion. Die Folgen werden um ein Vielfaches potenziert, wenn sich die Beteiligten selbst in der Anonymität verstecken, so dass ihnen ihr Agieren nicht mehr zu­geordnet werden kann.

Es ist kein Zufall, viele Menschen Konflikte online oft mit wesentlich größerer Aggression aus­tragen als offline: Das Internet begünstigt die Auflösung des Zusammen­hangs von Freiheit und Verantwor­tung. Darin wurzelt die Abkehr von der goldenen Regel verträglichen menschen Zusammenlebens: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Dazu trägt auch bei, dass im Netz der flüchtige Klick die gültige Währung ist. Schnell ist geschrieben, was dauerhaft erhalten bleibt. Geschwindigkeit ist aber kein Ausweis von De­mokratiesteigerung, ihr wohnt die große Gefahr der Oberflächlichkeit inne. Das Internet ist eben auch ein nervöses Skandali­sierungsmedium. Nirgends entste­hen so viele Gerüchte und Verschwörungstheorien und nirgends wer­den sie so schnell verbreitet wie im Netz. Das ist ein ideales Spielfeld politischer Radikalisierung und extremistischer Verführug.

Man sollte nicht dem Irrtum verfallen, dass diese Phänomene nicht so ernst zu neh­men sind, weil sie sich „nur“ im Cyberspace abspielen würden. Im Internet zeigen sich gesellschaftliche Entwicklungen wie im Brennglas ungefiltert und früh. Wir müssen begreifen, dass es hier nicht um harmlose Online-Spielchen geht, sondern um virtuelle Tabubrüche mit realen Folgen: Die Relativierung und Verharm­losung von Gewalt bereitet ihrer Anwendung den Weg. Die moderne Gewaltspirale folgt allzu oft der Dynamik virtuell – symbolisch – real. Wer dieser Steigerung Einhalt gebieten will, muss dies auf allen drei Ebenen tun.

Dr. Stephan Eisel (1955) war als Mitglied des Deutschen Bundestages bis 2009 Mitglied im Euro­paauschuss und u. a. 1983- 1992 zunächst als Redenschreiber und dann als stv. Leiter des Kanzlerbü­ros Mitarbeiter von Helmut Kohl. Seit 2010 ist er in der Konrad-Adenauer-Stif­tung Projektleiter für „Internet und Demokratie“ so­wie „Bürgerbeteiligung“. Er ist verant­wortlicher Redak­teur des Blogs für politisches Handeln aus christlicher Verantwortung kreuz-und -quer.­de

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