EIN JAHR GROSSE KOALITION

Heinrich Oberreuter zieht ein Jahr nach der Bundestagswahl Bilanz, erkennt keine Bewegung auf dem Wählermarkt und fordert entschiedenere Führungsbereitschaft.

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Heinrich Oberreuter

Ein Jahr Große Kolaition

Das hat es noch nie gegeben: Mehr als ein Jahr nach der Wahl signalisiert die Sonntagsfrage der Demoskopen ziemlich exakt die gleichen Daten wie das Ergebnis damals. Keine Bewegung am Wählermarkt, kein Popularitätsverschleiß der Union, kein Gewinn für den Koalitionspartner, kein Aufschwung der Opposition.  In München träumt man schon von einer absoluten Mehrheit in Berlin 2017: Übermut, Realitätsferne und innerparteiliche Seelenpflege.

Eigentlich wäre ja die Frage berechtigt, ob diese große Koalition nicht die Union klein macht. Der Koalitionsvertrag – sozialdemokratisch akzentuiert; die Gesetzgebung des ersten Jahres – im Kern ein SPD-Projekt zur Verwirklichung „sozialer Gerechtigkeit“. Acht Gesetze hat Andrea Nahles durchgesetzt, darunter das Rentenpaket samt der Rücknahme sinnvoller Reformen der Regierung Schröder.

Etwa die Hälfte des eben verabschiedeten Etats ist dem Sozialen gewidmet. Das mag die sozialdemokratische Seele entzücken.  Vernünftig ist es aber nicht angesichts der demografischen Entwicklung, die uns 2060 nur noch 36 statt heute 50 Millionen Erwerbstätige beschert, dafür aber 3,3 Millionen Menschen über 90 statt heute 650 000. Das hat immense Folgen für für Sozial- und Rentenkassen, nicht zuletzt für die Wirtschaftskraft.

Nun auch noch die Frauenquote, die die Union mehr schluckt als fördert. Die Bayern verweisen auf Maut und Korrektur der kalten Progression, nichts davon in trockenen Tüchern. Aber die sozialdemokratische Gestaltungsdominanz bleibt folgenlos.

In der öffentlichen Meinung schlägt sie sich nicht nieder: keinerlei Terrainverlust für sie Union. Warum? Zum einen, weil die Wähler die Bedienung sozialer Ansprüche hic et nunc für absolut normal halten, ohne ihre Phantasie in die Zukunft schweifen zu lassen. Zum anderen, weil Angela Merkel über allem schwebt, auf den internationalen und  europäischen Konflikt- und Spielfeldern ohnehin. Anscheinend ist sie eine Bastion des ansonsten schütteren Vertrauens.

Vater Staat, der sich kümmert, trägt mittlerweile weibliche Züge. Merkels Regierungsstil schafft offensichtlich Konsens in der traditionell konfliktscheuen Gesellschaft: große Koalition unter starker Führung. Was sie Kanzlerin geschehen lässt, entspringt einer Machtpragmatik, die Jürgen Habermas nicht ohne Grund „demoskopiegeleiteten Opportunismus“ genannt hat. Damit hat sie sich in den eigenen Reihen unangreifbar gemacht. Die Fraktion ist still.

Seehofer windet auf seinem Parteitag Girlanden. Gabriel, der viel durchsetzt, hat sich im Gegensatz dazu offensichtlich stetig wachsenden Herausforderungen des noch immer unzufriedenen linken SPD- Flügels zu erwehren. Auch wegen dessen Störfeuers, ist zu vermuten, tagt zur Überraschung praktisch nie der Koalitionsausschuss.

Die drei Parteivorsitzenden regieren, sich täglich telefonisch abstimmend, allein. Auch das ist ein Novum. Dass sie sich wegen der Regierungsbildung in Thüringen kurz die Krallen zeigen, ist irrelevant für die Gegenwart. Auch ohne Thüringen würden beide Partner 2017 nach anderen Konstellationen suchen, die Schwarzen zuallererst mit den Grünen, sobald diese sich den „Angstschweiß“ (Schäuble) abgewischt haben.

Allerdings fragt sich, ob die gegenwärtigen politischen Farbenlehren 2017 noch gelten. Bekanntlich können Wähler auch ziemlich mobil sein, wenn sie ihre Fragen und Bedürfnisse nicht berücksichtigt sehen, wenn Verunsicherung um sich greift –  ich nur materielle. Eine dieser Fragen von wachsender Resonanz scheint die nach der deutschen Identität zu sein: nicht nur im europäischen Prozess, sondern auch hinsichtlich der Fundamente gesellschaftlicher Integration. Für das Parteiensystem würde das wohl kaum folgenlos bleiben: Dynamik statt Immobilität im Wählermarkt?

Ob die Union rechts ausfranst, wie es der SPD links geschah, ist eine legitime Frage  – und ob diese sich durch eine großkoalitionäre Profilabflachung stellt auch. Antworten liegen nicht in biederem Nazi- und Kommunistenschreck, sondern in Antworten auf Verunsicherungen, deren Legitimität vernünftigerweise nicht bestritten werden kann.  In der Praxis fordern die Terrainverluste in den Bundesländern mit ihren Konsequenzen im Bundesrat und damit für ein richtungsorientiertes Regieren aktuell noch mehr heraus. Wenn alles gleich und alternativlos erscheint, bleibt als unterscheidendes Kriterium nur noch Merkel.

Gewinnen wir in dieser Konstellation Zukunftsfähigkeit?

Die schwarze Null im Haushalt ist dafür ein Signal, sogar ein alternativträchtiges zuhause und mehr noch in Europa. Die viel zu geringe Investitionsquote ist es aber auch. Geld wird nicht nur für die Verteilung von Leistungen gebraucht, sondern auch für die Gestaltung der Zukunft. Dafür vielleicht sogar noch dringender. Die Gestalt der Zukunft, die sich längst formt, liegt jenseits des nächsten Wahltermins und damit auch jenseits des unter der Herrschaft des Machtkalküls für relevant gehaltenen politischen Horizonts. Weithin verharrt die Gesellschaft im Gewohnten.

Verlangt aber sind Bewegung und Bereitschaft zur Veränderung. Allzu lange werden Schwarz und Rot sich der Einsicht nicht mehr verschließen können, dass zu dieser Bereitschaft entschiedener politisch geführt werden muss, statt Verharrung zu prämieren. Dem Gemeinwohl zu dienen, birgt Risiken – natürlich. Gerhard Schröder hat es erfahren.

Was die jüngsten Debatten aber auch zeigen: man kann nur noch auf die beiden Großen setzen. Die Opposition ist nicht nur klein, sondern auch schwach. Regieren verlangt mehr als der Reihe nach die Lieblingsprojekte der Koalitionspartner abzuhaken. Man kann z.B. nicht ein Jahr lang Sozial- und das nächste Wirtschaftspolitik betreiben – eine Binsenweisheit, wahrscheinlich weithin geteilt.

Aber beherrscht sie auch den Alltag? Nein, unter den gängigen Maßstäben schwächt die große Koalition sie Union nicht, erst recht nicht, wenn die SPD in inneren Kämpfen sich selber schwächt. Aber jenseits des Gängigen ist zu bedenken, daß ohne entschiedenere Führungsbereitschaft das ganze Land kleiner werden könnte.

Heinrich Oberreuter (1942) war von 1980 bis zu seiner Emeritierung Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau. 1991 wurde er zum Gründungsdekan für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Dresden berufen. 1993 übernahm Oberreuter zusätzlich zum Passauer Lehrstuhl das Amt des Direktors der Akademie für Politische Bildung Tutzing. 1997 erhielt er die Ehrendoktorwürde beider von ihm gegründeter Fakultäten der TU Dresden, an der er 2002/03 auch als Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung amtierte. Gegenwärtig hat er die Redaktionsleitung für die Neuauflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft inne.

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