9. Oktober 1989: Montagsdemonstraten siegen

Der 9. November 1989 hat sich als Tag des Mauerfalls in das historische Gedächtnis eingegraben. Aber schon vier Wochen zuvor, am  9. Oktober 1989  brachte der Erfolg der Leipziger Montagsdemonstration die SED-Diktatur zu Fall. In einem sehr lesenswerten Beitrag berichtet Richard Schröder wie es dazu kam.

Richard Schröder (1943) war evangelischer Pfarrer in der DDR und 1989 Vorsitzender der SPD-Fraktion der einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer. Sein Rückblick war Thema der Laudatio, die er aus Anlass der Verleihung des Nationalpreises 2014 der „Deutschen Nationalstiftung“ am 26. Juni 2014 hielt.

Den vollständigen Text von Richard Schröder zu den Montagsdemonstrationen  können Sie hier ausdrucken.

Unter anderem schreibt Richard Schröder: 

„Wie jeder weiß, nahmen die Montagsdemonstrationen ihren Ausgang von den Friedensgebeten in der Nikolaikirche jeden Montag 17 Uhr. Deshalb sind diese Montagsgebete die Vorgeschichte der Montagsdemonstrationen. Und das kam so.
1978 führte Margot Honecker ein neues Schulfach ein: Wehrerziehung. Das stieß auf den Protest vieler Eltern und auch der Evangelischen Kirche, die dagegen eine Erziehung zum Frieden forderte – vergeblich. Darauf beschloss die Evangelische Kirche in beiden Teilen Deutschlands, jährlich eine Friedensdekade an den letzten 10 Tagen des Kirchenjahres, also vor dem Totensonntag, abzuhalten mit täglichen Friedensandachten. Es war ja die Zeit der Nachrüstungsdebatten. 1980 fand die erste Friedensdekade statt. Das Dresdner Jugendpfarramt hatte für diese Andachten eine Materialmappe erstellt, die an die Gemeinden versandt wurde.

Und man hatte sich dafür etwas Besonderes ausgedacht, ein Lesezeichen, gedruckt auf Vlies, das eine sowjetische Plastik von Jewgeni Wutschetisch zeigte, nämlich einen sehr muskulösen Mann nach Art des heroischen sozialistischen Realismus, der aus einem Schwert eine Pflugschar schmiedet. Diese überlebensgroße Plastik hatte die Sowjetunion 1959 der UNO geschenkt. Sie nahm ein biblisches Motiv vom Propheten Micha auf, wo es heißt: in den letzten Tagen werden die Völker zum Zion kommen und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden.

Da die Kommunisten der Überzeugung waren, dies werde sich im Kommunismus erfüllen, haben sie die plastische Darstellung dieses Bibelworts der UNO vermacht. Und die Kirche dachte: dann kanns ja wohl nicht verboten sein, diese Plastik, umgeben mit den Worten „Schwerter zu Pflugscharen“ und Nennung der Bibelstelle Micha 4 auf Textilvlies drucken zu lassen. Das Herrnhuter Unternehmen Abraham Dürninger (wohl die einzige kircheneigene Produktionsstätte in der DDR) druckte 120.000 Stück. Dabei nutzte die Kirche eine Gesetzeslücke. Das Bedrucken von Papier unterlag der Zensur, die aber nicht so genannt werden durfte. Das Bedrucken von Textilien dagegen galt als Oberflächenveredelung. Deshalb also war das Lesezeichen aus Vlies und nicht aus Papier.

Und deshalb ließ es sich, was gar nicht beabsichtigt war, gut auf Jackenärmel nähen, was viele Jugendliche auch promt taten. Darauf begannen Schulen und die Polizei eine Jagd auf dieses Abzeichen. Es musste sofort entfernt werden oder die Jacke wurde beschlagnahmt. Disziplinarische Maßnahmen folgten. Studenten wurden deshalb exmatrikuliert. Manche Jugendliche nähten sich daraufhin einen weißen Fleck auf den Ärmel mit der Inschrift: „hier war ein Schmied“.

Diese Friedensdekade mit ihren 10 Friedensandachten einmal jährlich fand auch in der Leipziger Nikolaikirche statt, aber eben jährlich und nicht wöchentlich.

Da die SED die Kirche nicht dazu bringen konnte, die Montagsgebete abzusagen oder zu verlegen, kam sie auf die Idee, die Nikolaikirche einfach mit treuen Genossen zu füllen, die bereits eine Stunde vor Beginn, also 16 Uhr, alle Plätze besetzen sollten. Die Nikolaikirche verfügt aber über recht große Emporen. Die ließ Pfarrer Führer zunächst sperren, um dann den verdutzten Genossen zu erklären, die Emporen würden nun geöffnet, damit auch die werktätige Bevölkerung, die jetzt erst von der Arbeit kommt, noch Sitzplätze findet.

Am 4. September 1989 ist das erste Montagsgebet nach der Sommerpause. Die Leipziger Messe bringt Westjournalisten nach Leipzig, die Bilder liefern, wie vor der Kirche Transparente gehalten und von Stasileuten weggerissen werden. Aber ansonsten halten sich die Sicherheitsleute zurück. Dagegen wird vom 11. September an der Polizeieinsatz hart. Eine Demonstration wird verhindert. Es kommt zu Verhaftungen und zu 18 Verurteilungen bis zu 4 Monaten und Ordnungsstrafen von bis zu 5000 M. Aber die Gruppen sind auf so etwas vorbereitet und DDR-weit vernetzt. Es gibt Kontaktadressen und juristische Beratung für Zugeführte. Und es gibt Fürbittveranstaltungen für die Inhaftierten, auch außerhalb von Leipzig. Und über die Westmedien kann man die gesamte DDR-Bevölkerung informieren.

Zur Erinnerung: am 7. Oktober hat die SED den 40. Jahrestag der DDR mit Pomp gefeiert und gleichzeitig in Berlin wie in Leipzig Demonstranten gejagt, verhaftet und gedemütigt. Und nun sollte auch die Montagsdemonstrationen – so viele waren es ja noch gar nicht – beendet werden, genauer: verhindert, und wenn das nicht gelingt, aufgelöst werden. So lautete die Devise aus Berlin.

Bereits am 6. Oktober war in der Leipziger Volkszeitung der Brief eines Kampfgruppenkommandeurs veröffentlicht worden, in dem dieser erklärte: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand.“ Das Gerücht wurde gestreut, es gebe einen Schießbefehl. In Schulen und in der Universität erging die Aufforderung, nachmittags nicht auf die Straße zu gehen.

Es kam aber anders. Der Polizeichef von Leipzig, Straßenburger, schätzte am Vormittag, es werden 50.000 Demonstranten kommen. Das Berliner Innenministerium hielt das für übertrieben und schätzte 20.000. In Wahrheit kamen wohl 70.000, jedenfalls so viele, dass die Verantwortlichen sich entschieden, die Demonstranten auf dem bisherigen Weg rings um die Innenstadt – den Ring entlang der ehemaligen Stadtmauer – laufen zu lassen, weil die aufgebotenen Sicherheitskräfte nach ihrem Urteil nicht ausreichten, um eine solche Demonstration aufzulösen und die Demonstranten zu internieren. 

Die Montagsgebete fanden diesmal in fünf Leipziger Kirchen gleichzeitig statt. In diesen Gottesdiensten wurde noch einmal, wie bisher, dazu aufgerufen, auf Gewalt vollständig zu verzichten. …

Der 9. Oktober war ein Durchbruch. Die Staatsmacht hat erstmals siegen wollen und – kapituliert. „

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