DIGITALER KINDERSCHUTZ

Julia von Weiler fordert, den  Sprung vom Polaroid- ins Digital-Zeitalter zu vollziehen, um Kinder gegen die vielfältigen Missbrauchsgefahren im Netz zu schützen. Sie fordert, Anbieter gesetzlich zu verpflichten, Angebote für Kinder den Standards des Kinderschutzes zu unterwerfen. Dazu gehört zum Beispiel die Verpflichtung zu einer Altersverifikationen und Kinder/Jugend-Chats bzw. Onlinespiele für Kinder/Jugendliche oder an Kinder/Jugendliche gerichtete soziale Netzwerke nur moderiert anzubieten.

 

 

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Julia von Weiler

Digitaler Kinderschutz 

Im Juli vergangenen Jahres loggte sich ein Mann in einem Kinderchat ein. Er gab sich als Teenager aus, nannte sich „Marco“ und begann mit einem 13-Jährigen Mädchen zu chatten. Sie verliebte sich in ihn. Nach einer Weile nahm er online noch eine zweite Identität an. Als „Bianca“ wurde er zu einer Freundin. Und dann trat er in der Rolle eines Russen-Mafiosos auf. Als der drohte er dem Mädchen, ihren Freund „Marco“ zu töten und sie in ein Bordell zu entführen, wenn sie sich nicht mit ihm per­sönlich treffen würde. „Bianca“ riet, der „Mafioso“ drohte, und das verwirrte Mädchen machte sich auf zu einer verhängnisvollen Begegnung. Der Mann missbrauchte sie schwer, auf deutsch: er vergewal­tigte sie.

„Er baute ein raffiniertes System aus Lügen und Manipulation auf und hat sich das Mädchen so gefü­gig gemacht.“ So sollte später die Analyse des Gerichts lauten, das den 38jährigen Tä­ter zu fünf Jahren und neun Monaten Haft verurteilte. Das alles klingt wie in einem fantasti­schen Film, ist aber bittere Realität. Das Vorgehen ist nur eines von vielen Beispielen für die perfiden Strategien, die Täter und Täterinnen nutzen, um sich Kindern und Jugendlichen im Netz zu nähern, sie real zu treffen und dann zu missbrauchen.

Mädchen und Jungen fallen darauf herein, weil sie eben Kinder oder Jugendliche sind. Sie sind den Strategien der Täter unterlegen. Immer. Das gilt online umso mehr. Woher sollen sie ahnen, dass je­mand sich zwei, drei oder vier Profile ausdenkt, um sie zu manipulieren? Wie sollen sie wissen, dass Männer und Frauen gezielt Kinderchats oder Online-Kinderspielen beitreten? Dort wollen Täter und Täterinnen Kinder kennenlernen, potentielle Opfer ausloten.

Die Täter und Täterinnen sitzen mitten unter uns 

80-90 Prozent aller Taten sexuellen Missbrauchs finden im sozialen Nahfeld statt. Zu diesem Nahfeld gehört längst auch das soziale Netzwerk, der Chat, das Online Spiel oder die Whats­App-Gruppe. Täter und Täterinnen wissen, wie sie sich Kindern nähern müssen, was sie fra­gen, sagen, bemerken müssen, um Mädchen und Jungen zu manipulieren. Cybergrooming nennt man das.

60 bis 90 Sekunden dauert es zum Beispiel, bis ein als Kind erkennbares Kind in einem Kin­derchat von Erwachsenen angeschrieben wird. Nach zwei bis fünf Minuten spätestens beginnt der Erwachsene explizit über Sex zu sprechen und will sich verabreden. Auch das klingt auch nach einem schlechten Film, findet aber real statt.

Digital haben Täter und Täterinnen einen entscheidenden Vorteil. Sie haben unmittelbaren Kontakt zum potentiellen Opfer – und vor allem ungestörten Kontakt. Das bedeutet, es gibt niemanden, den sie außerdem noch von sich überzeugen müssen. Nur das Kind.

Und selbst wenn es jemanden gäbe: Mädchen und Jungen in Not wissen oft nicht an wen sie sich wen­den sollen. Unverständnis, die Angst vor Repressionen, die Scham über die eigene Manipulierbarkeit – das alles sind Gründe, warum sich Mädchen und Jungen nicht mitteilen. Sie bleiben viel zu oft allein mit ihren Nöten. Und fühlen sich auch noch schuldig dabei.

Selbstdarstellung, das A & O des digitalen Exhibitionismus. Vom Selfie zu Sexting 

Selfie ist der Begriff, der neuerdings in aller Munde ist. Selfie steht für das selbstproduzierte Selbst­porträt. Das schnell geschossene Bild mit einem Promi. Selbst die Bundeskanzlerin nutzt den Trend gern, um auf Tuchfühlung zu gehen mit ihren Fans, den Bürgerinnen und Bürgern.

„Sexting“ setzt sich zusammen aus „Sex“ und „texting“, dem englischen Ausdruck für SMS schreiben. Sexting ist also das sexy inszenierte Selfie. Miley Cyrus nutzt es, um sich zu insze­nieren, auch auf Twitter oder Instagramm. Selbst der Sänger Keith Urban berichtet in einer US Talkshow, wie er und seine Frau, Oscarpreisträgerin Nicole Kidman, Sexting nutzen – um ihre Beziehung lebendig und ero­tisch zu halten.

Ist das Selfie aber erst einmal digital verschickt, verliert man die Kontrolle. Das gilt im Netz für jedes Bild, egal ob sexy oder normal. Nutzer können die Bilder kopieren, weiterleiten, ver­ändern. Eine Un­tersuchung der Internet Watch Foundation ergab, dass neun von zehn Sexting Selfies auf parasitären Webseiten landen, viele davon auf pornografischen. Sie entwenden das Bild – meistens ohne dass ihre Urheber davon erfahren.

Sexting Selfies sind zugleich ein perfektes Instrument der Erpressung. Ermittler beobachten eine zu­nehmende Entwicklung, in der Kinder im Internet von Erwachsenen überredet, ausge­trickst oder ge­zwungen werden, sexuell eindeutige Bilder von sich zu machen. Hat ein Mäd­chen oder Junge ein Nacktbild von sich verschickt, fordern Täter und Täterinnen häufig noch mehr Bilder, Filme, Handlun­gen oder Treffen. Und produzieren so auch Kinderpornografie.

Kinderpornografie – Abbildungen und Filme sexuellen Missbrauchs 

Am 18. März berichten Medien erneut von einem großen Schlag gegen ein Netzwerk zur Ver­breitung von Kinderpornografie. Es geht um 27.000 Verdächtige, 2.000 Videos und mehr als 250 Opfer. US-Fahnder haben dabei einen der bislang größten internationalen Kinderporno­ringe im Internet ausgeho­ben. 14 Verdächtige seien festgenommen und angezeigt worden.

Wie oft mögen die 250 Jungs auf diesen 2.000 Videos missbraucht worden sein? Wie viele Nutzer weltweit haben sich die Videos beschafft und weiter verbreitet? Wer schaut sich so et­was überhaupt an? Australische Strafverfolger beschreiben Betrachter von kinderpornografi­schem Material. Sie „le­ben in aller Regel in Beziehungen, haben Arbeit, verfügen über einen überdurchschnittlichen Intelli­genzquotienten, eine Universitätsausbildung und sind nicht vorbestraft“ (Blundell et al, 2002).

Webcam-Kindersextourismus: Organisierter, bezahlter sexueller Missbrauch 

Ende 2013 bewies „terre des hommes“ Niederlande mit „Sweetie“, was es mit dem „Webcam Kinder­sextourismus“ auf sich hat. Sweetie ist die digitale Kunstfigur eines 10jährigen philip­pinischen Mäd­chens, deren Körper binnen weniger Wochen 20.000 Männer weltweit kaufen wollten. Ein lukrativer Markt des „Kindersextourismus.“ Eine sich neu und rasant entwickeln­de Industrie. Ermöglicht einzig durch die digitalen Medien und die globale Vernetzung.

Die Technologie ermöglicht nicht nur über tausende von Kilometern hinweg zu missbrauchen, sondern diesen Missbrauch auch festzuhalten in Bild und Ton. Für immer. Für den Eigenbe­darf, zum Tauschen oder Verkaufen. Alles ist möglich. Der digitale Exhibitionismus verändert eines der schrecklichsten Menschheitsverbrechen – er macht es einfacher, wahrscheinlicher und vermeintlich freiwilliger.

„Kinder und Jugendliche sollen die Chancen und Möglichkeiten, die ihnen das Internet bietet, optimal nutzen können, ohne mit für sie schädigenden Inhalten konfrontiert zu werden“, steht im Koalitions­vertrag. „Moderner Jugendmedienschutz muss Rahmenbedingungen für eine ge­meinsam getragene Verantwortung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft schaffen.“

Was das heißen soll, weiß im Moment niemand. Zuallerletzt der Bundestag. Zwar hatte das Hohe Haus in der vergangenen Legislatur eine Enquete-Kommission eingerichtet, die sich mit „Internet und digi­taler Gesellschaft“ befasste. Monatelang tagten 12 Arbeitsgruppen zu den verschiedensten Themen. Um sexuellem Missbrauch und seine Abbildungen im Netz aber kümmerte sich keine dieser AGs.

Julia von Weiler ist Psychologin (New York/Berlin) und befasst sich seit 23 Jahren mit sexuellem Missbrauch. Seit 2003 leitet sie Innocence in Danger, einen Verein der sich besonders mit sexueller Gewalt mittels digitaler Medien beschäftigt. Sie ist Autorin des Buches „Im Netz. Kinder vor sexueller Gewalt schützen“ (Kreuz Verlag 2011) sowie diverser Fachartikel. Hilfreiche Tipps zum Thema und digitalen Kinderschutz finden Sie unter www.innocenceindanger.de

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