SCHULE UND SEXUELLE IDENTITÄT

Klaus Mertes SJ plädiert in der aktuellen Debatte um Lehrpläne in Baden-Württemberg für Sachlichkeit und warnt vor der Ambivalenz des öffentlichen Schuldiskurses.

Den folgenden Artikel können Sie hier ausdrucken.

Klaus Mertes, SJ

Schule und sexuelle Identität 

Gedanken zur aktuellen Debatte um das Arbeitspapier der
Bildungsplankom­mission in Baden Württemberg.

Ein „Arbeitspapier für die Hand der Bildungsplankommission“ aus dem Baden-Württembergischen Bildungsministerium hat eine heftige Debatte ausgelöst, im „Ländle“ und darüber hinaus. Es ist er­freulich, dass sich die Kirchen von den Hetzparolen und diffamierenden Blogeinträgen klar distanziert haben, die seit der letzten Woche eine Petition gegen die angedachten Leitlinien für Lehrpläne 2015 begleiten. Sie hätten vielleicht auch den Text der online-Petition noch etwas kritischer unter die Lupe nehmen können, damit sich auch diejenigen Katholiken und Protestanten repräsentiert fühlen dürfen, die bei diesem Thema nicht sofort in die Luft gehen. Und natürlich hat es nichts mit Homophobie zu tun, wenn man einige Punkte des vorgelegten Bildungsplans 2015 kritisch sieht. Darüber gleich mehr.

Die Landesverfassung und das Schulgesetz von Baden-Württemberg nehmen Bezug auf das christliche Menschenbild. Der Kern des christlichen, besser: biblischen Menschenbildes besteht in der Aussage, dass der Mensch als Mann und Frau Gottes Ebenbild ist  – also eine Würde hat, die niemand ihm neh­men darf und letztlich auch kann. Jesus berief sich auf dieses Menschenbild, um die Entwürdigung der Frau in der patriarchalischen Ehe zu bekämpfen. Entsprechend liegt der praktische Akzent beim Hin­weis auf das christliche Menschenbild, wenn man ihn auf die aktuelle Debatte bezieht, darauf, dass  auch homosexuellen Menschen dieselbe Würde der Gottesebenbildlichkeit zugesprochen ist – und zwar nicht nur theoretisch, sondern mit Konsequenzen für die Praxis, vom Schutz vor Diskriminierung bis hin zur Anerkennung  von Rechten. Der eigentliche Skandal ist, dass das offensichtlich nicht selbstverständlich ist.

Christlich sich nennende Hetzer und Blogger nehmen das Wort „christliches Menschenbild“ in den Mund, um Hass gegen Schwule, Lesben und Transsexuelle auszuagieren.  „Worin du den anderen rich­test, darin verurteilst du dich selbst“ (Röm 2,1). Entsprechend diesem Wort von Paulus wäre es eher christlich, auf sich selbst zu blicken und sich zu fragen: Wo trage ich das Diskriminierungsverbot ge­gen Homosexuelle (vgl. Katholischer Katechismus Nr. 2359) zwar auf den Lippen, aber eigentlich nicht im Herzen? Wo berufe ich mich auf die Bibel, um Bestätigung zu finden, und wo vermeide ich den Blick auf sie, weil sie mich in Frage stellt?

Das Ideal der Ehe zwischen Mann und Frau ist nicht in Gefahr, auch nicht bei den Jugendlichen heute. Alle Studien einschließlich der Shell-Studie belegen, dass für die allermeisten Jugendlichen Ehe und Familie weiterhin höchste Attraktivität besitzen. Das Ideal ist auch nicht durch die Tatsache gefährdet, dass die Scheidungsraten in den letzten Jahren gestiegen sind. Wer in der Schule mit Kindern und Ju­gendlichen zu tun hat, der weiß, dass die allermeisten Trennungen für die Beteiligten mit großen Schmerzen verbunden sind. Wenn gleichgeschlechtliche Paare sich dem Ideal der Treue  und zu verbindlicher Unterstützung gegenseitig verpflichten, dann kann das nur im Sinne der Schrift sein, in der es heißt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.“ (Gen 2,18) Die Frage nach Kindern in gleichgeschlechtlichen Beziehungen muss vom Kindeswohl und von Kinderrechten her bedacht werden – was im Übrigen mutatis mutandis auch von Kindern aus der Ehe zwischen Mann und Frau gilt. Mit alledem sind Lehrer und Erzieher heutzutage ganz praktisch befasst. Wenn man die konkreten Menschen und Schicksale vor Augen hat, wird man behutsamer in Ton und Inhalt.

Im Bereich „Prävention und Gesundheitsförderung“ (S.24ff) formuliert das Arbeitspapier „Kompeten­zen“ und „mögliche Inhalte“ eines künftigen Lehrplans an den Schulen des Landes. Unter 4 geht es um die Kompetenz „sich selbst als Persönlichkeit wahrnehmen, beschreiben und entfalten zu können.“ Als möglicher Inhalt wird genannt: „Erkennen der eigenen sexuellen Identität …“

Nach meiner Einschätzung ist diese Formulierung missbrauchsanfällig. In der Schule „die eigene se­xuelle Identität zu erkennen“ kann m.E. nicht ein Lernziel von Schule im präzisen Sinne des Wortes sein. Die Schule kann nur denjenigen Schülerinnen und Schülern, die in der Schulzeit ihre eigene se­xuelle Identität erkennen (und ev. sogar aussprechen), den nötigen Schutz vor Diskriminierung geben. Dies muss sie dann allerdings mit aller Entschiedenheit tun. Dazu gehört auch die Aufgabe der Präven­tion dahingehend, dass die Thematik selbst im Unterricht angesprochen und reflektiert wird – dieses Anliegen des Arbeitspapieres teile ich –, aber eben als Thema, und nicht auf der Grundlage von exis­tentiellen Selbstoffenbarungen von Schülerinnen und Schülern im öffentlichen Schuldiskurs.

Etwas ganz anderes ist natürlich, wenn es faktisch zu Selbstoffenbarungen sexueller Identität in der Schule kommt. Das geschieht  und kann dann auch Anlass zur Reflexion des Themas werden. Aber solche Selbstoffenbarungen müssen absolut freiwillig erfolgen. Und etwas ganz anderes und wün­schenswertes ist es auch, wenn das Ansprechen der Thematik sexueller Identität in der Schule dabei hilft, dass Jugendliche ihre eigene sexuelle Identität erkennen und besser annehmen können. Aber die­ser vom Schuldiskurs angestoßene persönliche Erkenntnisprozess muss selbst nicht im öffentlichen Schuldiskurs ausgesprochen werden.

Nach meiner Erfahrung laufen die meisten Prozesse der Selbsterkenntnis von eigener sexueller Identi­tät bei Schülerinnen und Schülern außerhalb des Schuldiskurses. Ich meine: Aus gutem Grund. Und wenn sie in der Schule laufen, dann meistens in einem vertraulichen Kontext. Auch dies aus gutem Grund. Die Schule hat die Aufgabe, das Bedürfnis gerade der jungen Menschen nach geschützten Räu­men, nach Schutz der Intimsphäre zu respektieren und zu stärken, zumal sie von Medien umgeben sind, die den Unterschied zwischen Intimität und Öffentlichkeit nicht mehr kennen, sondern aktiv auf­lösen. Auch dies gehört übrigens zum Bildungsauftrag von Schule – die Kompetenz, zwischen Intimi­tät und Öffentlichkeit zu unterscheiden und sie in ein reflektiertes Verhältnis zueinander zu setzen.

Bei der Schulöffentlichkeit kommt hinzu, dass sie gerade deswegen besonders anfällig ist für Gewalt aller Art, weil sich Schüler ihr nicht entziehen können. Was ich einmal in der großen Schulöffentlich­keit über mich gesagt habe, begleitet mich die ganze Schulzeit lang. Anderen Diskursen kann ich mich entziehen – dem Schuldiskurs nicht, oder doch nicht ohne weiteres. Ich verstehe deswegen gut, dass es ein tiefes Bedürfnis bei den allermeisten Schülerinnen und Schüler gibt, mit existentiellen Aussagen über sich selbst gerade in der Schule besonders zurückhaltend zu sein. Schule muss das respektieren.

Das Arbeitspapier sollte m.E. unter diesem Aspekt noch einmal durchgearbeitet werden.

Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor am Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theolo­gie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, des­sen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Zentralkommitte der dt. Katholiken und im Kura­torium Stiftung 20. Juli 1944

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