100 TAGE PAPST FRANZISKUS

Klaus Mertes SJ kommentiert den Beginn des Ponitfikats von Papst Franziskus erkennt eine Betonung des Pastoralen gegenüber dem Do­krinären.

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Klaus Mertes SJ

100 Tage Papst Franziskus

Peripherie und Zentrum

In diesen Tagen kursieren Zitate aus einem Text durch die Medien, den die chilenische Zeit­schrift „Reflexión y Liberación“ kürzlich veröffentlichte (www.refexionyliberacion.cl – vgl. deutsche Übersetzung in der Anlage). Es handelt sich um ein Gedächtnisprotokoll von Teil­nehmern einer Begegnung des Verbandes aller Frauen- und Männerorden in Lateinamerika und der Karibik (CLAR) mit Papst Franziskus. Der Text wurde bis heute weder von der CLAR noch vom Pressesprecher des Vatikans, Paterr Lombardi, dementiert. Die chilenische Zeitschrift überschrieb ihn u.a. mit folgenden einleitenden Worten: „In einem Klima von schlichtem Vertrauen drängte Franziskus die Führungskräfte der CLAR, ihre Sendung zu den Rändern und Grenzen furchtlos fortzusetzen.“ Das Gespräch fand in dialogischer Form statt, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen saßen im Kreis beeinander, der Austausch dauerte eine gute Stunde. Das Forum „Wir sind Kirche“ ergänzt: „35 Jahre lang war die CLAR von Rom aus gezielt denunziert, kontrolliert und verfolgt worden. Führungskräfte wurden diffamiert, Projekte wie „Wort und Leben“ verboten, etc. Viele Ordensleute wurden Märtyrerinnen und Märtyrer – auch wegen der aus Rom gesteuerten üblen Nachrede, die sie für die Militärdikta­turen zum Abschuss freigab.“

Nach den ersten 100 Tagen dieses Pontifikates kann man sagen: Es ist Franziskus gelungen, einen Stilwechsel anzustoßen und heilsame Unruhe in die katholische Kirche zu bringen. Da­bei fällt auf, dass er mehr durch Taten als durch Worte bewegt – man könnte auch sagen: Seine Worte, die eher schlicht gewählt sind, erhalten Gewicht, weil sie von Taten begleitet werden: Fußwaschung am Gründonnerstag im Jugendgefängnis, an der auch zwei Frauen, darunter eine Muslima, teilnehmen; Veröffentlichung seiner Rede auf dem Konklave mit seiner Zu­stimmung; schlichte Kleidung, schlichte Worte, Wohnung im Gästehaus statt im Palast, eher an der Peripherie als im Zentrum. Das erinnert an den Beginn des Markusevangeliums: „Hier spricht einer mit Vollmacht – nicht wie die Schriftgelehrten.“

Wer Begriffe „Perpherie“ und „Zentrum“ mit lateinamerikanischen Ohren hört, begreift: Hier wird in Praxis und Theorie ein zentrales Anliegen der lateinamerikanischen Befreiungstheolo­gie aufgegriffen. Es macht eben doch etwas aus, wenn ein Papst aus einem anderen, für Rom fernen Kontinent kommt. In den 70er- und 80er Jahren galt Begoglio – und war er wohl auch – als ein Kritiker der Befreiungstheologie, besonders ihres radikalen, marxistisch sprechenden und denkenden Flügels. Doch es ist ihm offensichtlich gelungen, aus dem Lagerdenken der 70er und 80er Jahre herauszufinden, in dem andere nach der weltgeschichtlichen Wende von 1989 immer noch stecken. Hört man Franziskus zu und sieht man seine Taten, dann entsteht der Eindruck: Hier spricht und handelt einer aus dem Inneren der „Kirche der Armen“ heraus: Befreiungsteheologie minus Marximus plus Volksfrömmigkeit. Die dahinter stehende Inspiration ist ganz einfach: Es gibt eine Wechselwirkung von Lebensort und Denken: Mein Denken hängt ab von dem Ort, an dem ich wohne und lebe. Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich, je nachdem wo ich lebe und mit wen ich befreundet bin, aus einer anderen Perspektive. Der Ort, an dem ich Christus näher bin, sind die Armen.

Das führt, nach 100 Tagen erkennbar, zu einer Betonung des Pastoralen gegenüber dem Do­krinären – so sehr, dass man aus dem Munde dieses Papstes sogar ironische Bemerkungen über die Glaubenskongregation hören kann. Das ist keineswegs misszuverstehen als Missach­tung von Doktrin und Lehre. Aber wichtig ist diesem Past, dass die Doktrin von Hirten gelehrt wird, die den Geruch der Schafe in ihren Kleidern hängen haben – um ein anderes seiner plas­tischen Bilder zu benutzen: Von Bischöfen, Priestern und Seelsorgern also, die nahe dran sind an den Nöten und Sorgen der Leute. Theologie entsteht für Franzsikus nicht in der Gelehrten­stube, sondern in der Begegnung mit dem Leben, besonders dem Leben der Armen, Ausge­grenzten, Vergessenen und Übersehenen. „Pelagianische“ Zählfrömmigkeit und „gnostische“ Esoterik (vgl. seine Ausführungen vor der CLAR) sind ihm allein schon deswegen suspekt, weil solche Spiritualitäten vornehmlich in „reaktionären“ Kreisen oder „gebildeten Eliten“ zu finden sind. Auch die sogenannte „Schwulen-Lobby“  (ich würden den Begriff der „männer­bündischen“ Lobbys vorziehen, um diskriminierende Missverständnisse zu vermeiden) strebt ja eher in das Zentrum als in die Peripherie.

Der Spagat, den dieser Papst vor 100 Tagen begonnen hat, bleibt äußerst spannungsreich. Schon die Wahl des Namens ist entweder naiv oder kühn. Vielleicht gibt es aber auch eine Kühnheit, die nur möglich ist, wenn man zu einer zweiten, einer geläuterten Naivität gefun­den hat, die nicht meint, alles mit Plänen und Strategien erreichen zu können. Franzsikus setzt, wie seine Worte vor der CLAR zeigen, für die Reform der Kurie auf die vom ihm einge­setzte Kommission. Damit hat er aber auch das strategische Thema für sein Pontifikat gesetzt: Die Reform der Kurie, oder um es in lateinemerikanischer Terminoliogie zu sagen: Die Re­form des Zentrums von der Peripherie her.

AUDIENZ mit Papst Franziskus

CLAR, 06. Juni 2013

Reißt die Türen auf…. Reißt die Türen auf!

Ihr werdet Fehler machen, ihr werdet anderen auf die Füße treten. Das passiert. Vielleicht wird sogar ein Brief der Glaubenskongregation bei euch eintreffen, in dem es heißt, dass Ihr dies oder jenes gesagt hättet…. Macht Euch darüber keine Sorgen. Erklärt, wo Ihr meint er­klären zu müs­sen, aber macht weiter…. Macht die Türen auf. Tut dort etwas, wo der Schrei des Lebens zu hören ist. Mir ist eine Kirche lieber, die etwas falsch macht, weil sie überhaupt etwas tut, als eine Kirche, die krank wird, weil sie sich nur um sich selbst dreht……

(zu seiner Wahl) In keinem Augenblick habe ich den inneren Frieden verloren, wisst ihr? Das aber ist eigentlich nicht meine Art. Ich bin eher jemand, der sich Sorgen macht und der ner­vös wird…. Aber meine innere Ruhe habe ich keinen Augenblick lang verloren. Das ist für mich eine Bestätigung, dass das von Gott kommt…. 

(als wir ihm signalisieren, welche Hoffnung seine Gesten in dieser Zeit in uns geweckt haben, bezieht er sich darauf, in Santa Marta geblieben zu sein) … diese Gesten stammen nicht von mir. Sie sind mir nicht eingefallen. Ich bin weder mit einem Plan nach Rom gekommen, noch habe ich einen entworfen, als sie mich wählten. Ich habe mich so verhalten, weil ich spürte, dass der Herr genau dies wollte. Aber diese Gesten stammen nicht von mir – da gibt es einen Anderen … und das stärkt mein Vertrauen. 

Ich bin nur mit der nötigsten Kleidung hergekommen, habe sie abends gewaschen. Und dann plötzlich dieses Ergebnis… Wo ich doch gar keine Chance hatte. Im Londoner Wettbüro wur­de ich auf Platz 44 gehandelt,stellt euch das vor! Derjenige, der auf mich gewettet hat, hat natürlich einen Riesengewinn gemacht …! – Das ist nicht von meinem Tun abhängig. 

Man muss den Spieß umdrehen, alternativ denken. Wenn im Ort Ottavia­no ein alter Mann in der Nacht an Kälte stirbt, oder wenn so viele Kinder keine Schulbildung erhalten bzw. Hun­ger leiden, ich denke an Argentinien – dann ist das keine Nachricht wert. Wenn dagegen die Hauptbörsen der Welt um drei Punkte steigen oder fallen, dann ist es ein Weltereignis. Das muss man umdrehen. Das darf nicht sein. Die Computer sind nicht als Bild und Gleichnis Gottes erschaffen. Sie sind Instrumente, jawohl, aber nicht mehr. Das Geld ist nicht Bild und Gleichnis Gottes. Nur der Mensch ist Bild und Gleichnis Gottes. Das muss man umdrehen. Das macht das Evangeli­um aus! 

Man muss an die Ursachen ran, zu den Wurzeln kommen. Dass Abtrei­bung ein Übel ist, das ist allen klar. Aber was steckt dahinter, wenn ein solches Gesetz Zustimmung erfährt? Welche Interessen sind dahinter im Spiel? …. Manchmal setzen mächtige Gruppen solche Konditio­nen, bevor sie Geld geben. Wisst Ihr das? Man muss zu den Gründen vorstoßen. Wir können nicht bei den Symptomen stehen bleiben. Habt keine Angst davor, das aufzudecken… Dabei werdet ihr es schwer haben, ihr werdet Probleme kriegen, aber habt keine Angst davor, die Ursachen aufzudecken, darin besteht die Prophetie des Ordenslebens…..

Zwei Sorgen will ich Euch nennen. Eine ist, dass es in der Kirche gegenwärtig eine pelagiani­sche Strömung gibt. Es gibt bestimmte restaurative Gruppen. Ich kenne einige, in Buenos Ai­res hatte ich mit ihnen umzugehen. Man fühlt sich 60 Jahre zurückversetzt. In die Zeit vor dem Konzil… Man fühlt sich wie im Jahr 1940… Eine Anekdote, nur zur Illustration, nicht zum Lachen. Ich greife sie mit Respekt auf, aber sie macht mir Sorgen: Als ich gewählt war, erhielt ich einen Brief von einer dieser Gruppen. Man sagte mir: „Heilig­keit, wir bieten Ihnen diesen geistlichen Fundus an: 3525 Rosenkränze“. Warum sagen sie nicht: Wir beten für Sie, wir bitten dafür…. Also dieses Aufrechnen… Diese Gruppen kehren zu Praktiken und disziplinarischen Formen zurück, die ich kennengelernt habe – Ihr nicht, weil niemand von Euch so alt ist – zu disziplinarischen Formen, zu Dingen, die man damals anwendete, aber doch nicht heute, heute doch nicht mehr….

Die zweite Sorge betrifft die gnostische Strömung, diese pantheistischen Vorstellungen. Beide Strömungen sind unter den Eliten zu finden, aber diese zweite eher in der gebildeten Elite… Ich habe von einer Generaloberin gehört, die die Schwestern ihrer Ordensgemeinschaft dazu

aufforderte, am Morgen nicht zu beten, sondern ein spirituelles Bad im Kosmos zu nehmen. Solche Dinge…. Die machen mir Sorgen, weil sie die Inkarnation überspringen! Dabei wurde doch der Sohn Gottes Fleisch von unserem Fleisch, das Wort ist Fleisch geworden. Und in Lateinamerika zählt es nicht! Was geschieht mit den Armen, mit ihren Leiden, das ist Fleisch von unserm Fleisch.

Das Evangelium ist weder veraltete Regel, noch eine Art Pantheismus. Wenn du auf die Peri­pherien schaust, auf die Bedürftigen…auf die Drogenabhängigen, auf den Menschenhandel… Das ist das Evangelium… Die Armen sind das Evangelium….

(Als wir ihm signalisieren, wie schwierig es sei, sich mit der römischen Kurie auseinanderzu­setzen, und von der Kardinalskommission sprechen, die ihn unterstützen soll etc.) Ja… das ist schwierig. In der Kurie gibt es wirklich heiligmäßige Leute. Aber es gibt wirklich auch so et­was wie Korruption… Man redet von einer „Schwulen-Lobby“, und wirklich, es gibt sie… man muss schauen, was man machen kann. 

Die Reform der römischen Kurie haben fast alle Kardinäle in den Versammlungen des Vor-Konklave gefordert. Auch ich. Aber die Reform kann ich nicht durchführen, solche Verwal­tungsmaßnahmen…. Ich bin nicht gut in Organisationsfragen; darin war ich nie gut. Aber die Kardinäle der Kommission werden sie voran bringen. Da ist Rodríguez Maradiaga, der ist Lateinamerikaner, der übernimmt die Leitung; da ist Errazuriz.. beide sind sehr ord­nungsliebend. Auch der von München ist gut organisiert. Sie werden die Reform voranbrin­gen. Betet für mich, dass ich möglichst wenige Fehler mache…. 

Aparecida ist nicht zu Ende. Aparecida ist nicht nur ein Dokument. Aparecida war ein Ereig­nis. Aparecida war etwas anderes. Am Beginn gab es nicht einmal ein Arbeitsdokument. Es gab Beiträge, aber kein Dokument. Und sogar am Ende gab es nicht einmal ein Dokument, wenn man bedenkt, dass wir am vorletzten Tag noch 2.300 „Eingaben“ zu bearbeiten hatten… Aparecida ruft auf zur kontinentalen Mission. Damit endet Aparecida, mit dem Anstoß zur Mission. 

Das Besondere an Aparecida: Die Versammlung fand weder in einem Ho­tel statt, noch in ei­nem Exerzitienhaus, sondern in der Kirche des Marienwallfahrtsortes. Wochentags feierten wir Eucharistie und immer waren 250 Menschen dabei, weil es ein normaler Arbeitstag war. Aber am Wochenende war die Kirche voll! Das Volk Gottes begleitete die Bischöfe und betete zum Heiligen Geist….

Die Versammlungsräume lagen im Untergeschoss der Kathedrale. Daher waren die Gottes­dienste und Gesänge in der Kathedrale die Hintergrundmusik… Das waren ganz besondere Bedingungen…. Es gibt etwas, was mir Kummer macht und ich weiß noch nicht, wie ich das verstehen soll. Es gibt Ordensgemeinschaften, sehr sehr kleine Gruppen, einige wenige Mit­glieder und sehr alt…. Sie haben anscheinend keine Berufungen mehr, vielleicht will der Hei­lige Geist nicht mehr, dass sie weiter machen, vielleicht haben sie ihre Aufgabe für die Kirche erfüllt, ich weiß es nicht…. Aber sie sind weiterhin da, kleben an ihren Gebäuden, kleben an ihrem Geld….Ich weiß nicht, warum das so ist und ich kann es nicht verstehen. Aber ich bitte euch, dass ihr euch um diese Gruppen kümmert…. Der Umgang mit dem Geld … das ist etwas, wor­über wir nachdenken müssen…. 

Nutzt den Moment aus, den wir jetzt gerade in der Kongregation fürs Ordensleben haben… das ist ein lichter Augenblick…. Nutzt ihn aus. Der Präfekt ist gut! Und der Sekretär, den habt ihr „als Lobby“ selber lanciert! Nein wirklich, weil er doch Vorsitzender der Ordensoberen war. Also war es logisch, dass er es wurde! Wer wäre besser gewesen als er…. Müht euch be­sonders um den Dialog mit den Bischöfen, mit dem CELAM, mit den nationalen Bischofskon­ferenzen…. Ich weiß, einige haben andere Vorstellungen von der kirchlichen Gemeinschaft, aber …. Sprecht, unterhaltet euch mit ihnen, sagt ihnen…. 

Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor kam Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Zentralkommitte der dt. Katholiken und im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944

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