SOZIALPOLITIK WOHIN ?

Eva M. Welskop-Deffaa fordert, den Gestaltungsraum für sozialpartnerschaftliche Selbstverwaltung zu erweitern, die  Beitragsorientierung der Sozialversicherung zu stärken und eine Ausweitung der Sozialversicherungspflicht auf möglichst viele Bürger.

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Eva M. Welskop-Deffaa

Sozialpolitik wohin?

Die Zeiten, in denen man in der Rentenversicherung zwischen einer Arbeiter- und einer Angestelltenversicherung unterschied, sind vorbei. Der Wandel im Arbeitsleben hat seit den 90er Jahren dazu geführt, dass sich die Zahl der Versicherten in der BfA zulasten der Arbeiter-Rentenversicherung (LVA) immer stärker verschob; die 2005 vollzogene Fusion zur „Deutschen Rentenversicherung“ war die logische Konsequenz, wenn man die Leistungskraft der gesetzlichen Rente für Arbeiter wie Angestellte erhalten wollte.

Auch die Knappschaftsversicherung, ehemals „berufsständische“ Sozialversicherung der Bergleute, ist inzwischen in die Familie der Deutschen Rentenversicherung integriert – eigenständig könnte sie die guten Renten für die vielen Bergleute von gestern mit den Beitragszahlungen der wenigen Bergleute von heute längst nicht mehr aufbringen. In einer dynamisch sich wandelnden Arbeitswelt, in der Berufe und Branchen verschwinden, Grenzen zwischen blue und white collar-Arbeitnehmern im Computergrau verschwimmen, lässt sich soziale Absicherung nicht mehr als Solidarität unter Gleichen organisieren.

Heute gilt mehr denn je, was Oswald von Nell-Breuning schon in den 50er Jahren vorhersagte: Der Generationenvertrag in der Rente ist umso stabiler, je größer der Kreis derer, die einbezogen sind. Die Rentenversicherung ist eine Generationenversicherung, in der aus den Beiträgen der heute Erwerbstätigen die Renten derer finanziert werden, die gestern im Erwerbsleben standen, ganz unabhängig davon, ob sie mit Presslufthammer und Pickel oder mit Programmiersprache und Laptop ihre Arbeit erledig(t)en.

Erwerbstätigenversicherung

Der nächste Schritt, der nach der Fusion von BfA und Landesversicherungsanstalten folgen muss, ist die Vollendung eines einheitlichen Rentenversicherungssystems für ganz Deutschland Ost & West und die Erweiterung des Versichertenkreises der Rentenversicherung auf alle Erwerbstätigen – Soloselbstständige, crowd worker inklusive. So wie die Verschiebungen zwischen den Branchen, die mit der „digitalen Revolution“ an Fahrt gewinnen, die Eigenständigkeit differenzierter Versorgungssysteme mehr und mehr in Frage stellen, so fußt die Stabilität des Sozialversicherungssystems darauf, dass die im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung entstehenden gesamtgesellschaftlichen Produktivitätsgewinne zwischen aktiver und Senioren-Generation einerseits, zwischen den verschiedenen Versicherten andererseits fair verteilt werden.

Je mehr sich der Kreis der Versicherten mit dem der Bürgerinnen und Bürgern deckt, um so weniger werden sich Fragen nach „versicherungsfremden“ und „gesamtgesellschaftlichen“ Leistungen stellen, um die heute erbitterte Debatten geführt werden. Eine solidarische Rentenversicherung zeichnet sich dadurch aus, dass das Äquivalenzprinzip nicht streng versicherungsmathematisch angewandt wird. Die Versichertengemeinschaft entscheidet, ob im „Versicherungspaket“ beitragsfreie Erwerbslosigkeitszeiten im Lebenslauf bei der Berechnung der Anwartschaftszeiten mit gezählt werden, ob Kindererziehung als eigenständiger Beitrag in der Rentenversicherung gewertet wird, und/oder ob für Menschen mit (phasenweise teilzeitbedingt) niedrigen Einkommen Aufwertungen ihrer Beiträge fingiert werden, damit möglichst wenige langjährige Beitragszahler_innen eine Rente unter Grundsicherungsniveau erhalten.

In einer „Bürger-Versicherung“ sind all dies Fragen, die zwischen den Versicherten ausgemacht und wesentlich durch Transfers zwischen den allgemeinen Anwartschaftsniveaus und denen der begünstigten Teilgruppen solidarisch finanziert werden können. Faktisch regelt die Versichertengemeinschaft die angesprochenen Fragen aber nicht selbst, sondern stellvertretend entscheidet der Gesetzgeber, das Parlament. Und der Solidarausgleich erfolgt nur begrenzt innerhalb der Versichertengemeinschaft; in großem Umfang wird er durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt auf die Schultern der Vielen verteilt, da Erwerbspersonen- und Versichertenkreis heute noch deutlich auseinanderfallen.

Beitragsfinanzierung und Selbstverwaltung

Seit ihrer Gründung ist die Rentenversicherung, ebenso wie die anderen Zweige der Sozialversicherung, im wesentlichen beitragsbasiert und als selbstverwaltete Körperschaft organisiert. Beitragsbasierung und Selbstverwaltung waren die beiden Strukturdeterminanten der Rentenversicherung, die dem ursprünglichen Bismarckschen Plan einer obrigkeitsstaatlichen Fürsorgeleistung mühsam abgerungen werden mussten. Sie sind Garanten der Staatsferne einerseits und der Bürgernähe andererseits.

In den aktuellen Debatten um die Zukunft von Sozialpolitik und Sozialversicherung spielen Beitragsbasiertheit und Selbstverwaltung meist eine untergeordnete Rolle. Es wird häufiger ein höherer Steuerzuschuss zur Rentenversicherung gefordert als eine Ausweitung des Versichertenkreises. Es werden die Parlamentarier für rentenpolitische Entscheidungen kritisiert, ohne dass Forderungen nach einer gestärkten Selbstverwaltung zu hören sind. Für die Zukunftsfestigkeit der Sozialversicherungen ist eine Stärkung der sozialen Selbstverwaltung allerdings unbedingt geboten:

Aufgabe des Rechtsstaats ist die gleichmäßige Wertung der Interessen aller und die Förderung der Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit jedes Einzelnen – der soziale Rechtsstaat hat ergänzend die Aufgabe des institutionalisierten Kompromisses der ökonomischen Klassen. Mit der sozialen Selbstverwaltung ist ein Mechanismus nicht nur zur Sicherung individueller Rechte, sondern auch zur Berücksichtigung kollektiver Positionen geschaffen, der den Sozialstaat stärkt. Die in Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützte Freiheit, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ Vereinigungen zu bilden, ragt über die Tarifvertragsfreiheit hinaus und in die Gestaltung der Selbstverwaltung weit hinein: Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen werden nicht nur durch kollektives Arbeitsrecht, sondern auch durch die Sozialversicherungen gestaltet. Der Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern in der paritätisch besetzten sozialen Selbstverwaltung führt zur Orientierung an der Vielfalt der Versicherten – zu effizientem und responsivem Handeln der Sozialversicherungen.

Sozialpolitik – wohin?

Auf der Suche nach einer guten Zukunft für die Sozialversicherungen sollte Politik den Gestaltungsraum für sozialpartnerschaftliche Selbstverwaltung vergrößern und wieder stärker darauf vertrauen, dass die Sozialpartner in der Selbstverwaltung die Interessen der Versicherten (und Leistungsempfänger) bestmöglich repräsentieren, dass sie bürgernahes Handeln der Sozialversicherungen wirksam einfordern und so die nötige Solidarität unter Ungleichen nachhaltig tragfähig gestalten.

Gleichzeitig gilt es die Beitragsorientierung der Sozialversicherung zu erhalten und zu stärken. Dies setzt voraus, dass Beiträgen eine adäquate Gegenleistung gegenübersteht: Die Absenkung des Rentenniveaus, die schon heute dazu führt, dass nach einem Erwerbsleben unter Durchschnittseinkommensniveau armutsfeste Rentenleistungen nicht mehr sicher sind, gefährdet die Legitimität der Beitragspflicht. Sie rückgängig zu machen, die Sicherheitsreserve anzuheben und den Kreis der Versicherten zu erweitern, gehört daher zu den dringenden to-dos einer folgerichtigen Sozialpolitik und zukunftsfesten Weiterentwicklung unserer gesetzlichen Rentenversicherung.

Links zu

Stephan Rixen/Eva M. Welskop-Deffaa (Hg.), Zukunft der Selbstverwaltung, Responsivität und Reformbedarf, Wiesbaden 2015

Der Animationsfilm „Viola, die Versichertenälteste“ erklärt die Stärken der Sozialpartnerverantwortung in der Selbstverwaltung.

Eva M. Welskop-Deffaa (1959) ist Mitglied im Bundesvorstand der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und dort für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zuständig. Sie ist Arbeitnehmervertreterin im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit und im Vorstand der Deutschen Rentenversicherung Bund, seit 2013 Mitglied im Bundesvorstand der CDA und seit 2015 Mitglied der CDU-Kommission „Zukunft der Bürgergesellschaft“. Bis 2014 war Eva Welskop-Deffaa stv. Vorsitzende des Hildegardis-Vereins, Mitglied der Katholikentagsleitung Regensburg und Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken – dort auch Sprecherin für wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundfragen. Eva Welskop-Deffaa ist Diplom-Volkswirtin, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.

 

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