VERFASSUNGSSTAAT OHNE CHRISTENTUM ?

Hans Maier stellt die Frage, was in unserem demokratischen Verfassungsstaat ohne Christentum anders wäre. und verweist auf grundlegende Veränderungen der Denk- und Lebenswelt durch das Christliche: Die Entgötterung der Welt, das neue Bild vom Menschen und das Bewusstsein für Zeit und Verantwortung.

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Hans Maier

Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wäre anders?
(Kurzfassung)

Die Frage, „was wäre, wenn…was wäre anders?“ war in der ernsten Forschung lange Zeit verpönt. Das ist verständlich; denn beweisen lässt sich auf diesem Feld so gut wie nichts und vermuten fast alles. Aber nachdem auch strenge Methodiker in jüngster Zeit gegenüber dem Kontrafaktischen freundliche­re Töne angeschlagen haben (und dies nicht nur im nahegelegenen Feld der Zeitgeschichte), lasse ich die entsprechenden Hemmungen beiseite. Ich will fragen, ob es eine spezielle Beziehung zwischen dem Christentum und dem demokratischen Verfassungsstaat gibt – und ob der Wegfall des einen für den anderen spürbar wäre.

„Christentum“ verstehe ich dabei als ein Ganzes, ungeachtet der zweifellos vorhandenen geographi­schen, historischen und konfessionellen Trennungen; und mit dem „demokratischen Verfassungsstaat“ ist nicht eine spezifische historisch-nationale Gestalt gemeint, sondern die in der westlichen Geschich­te hervortretende (und im demokratischen Zeitalter unumkehrbar gewordene) Tendenz, politische Ge­walt unter ethische und rechtliche Bindungen zu stellen,ihr Ziele vorzugeben und Schranken zu set­zen.

I. Entgötterung der Welt 

Fragen wir zunächst danach, wie das Christentum die Denk- und Lebensformen der umgebenden poli­tischen Welt verändert hat. Offensichtlich handelt es sich um eine „Umwertung aller Werte“: denn an die Stelle der Einheit von Kult und Politik, an die Stelle des Anspruchs der Polis, „Kirche ihrer eige­nen Religion zu sein“ (Joseph Ratzinger), tritt in den neutestamentlichen Zeugnissen eine Zweiheit, wie sie am bündigsten im sogenannten Zinsgroschengleichnis (Mk 12, 13-17) umschrieben wird, wo es heißt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.“

Das Christentum trifft in den ersten Jahrhunderten seiner Ausbreitung auf eine universelle politische Religion: den Kaiserkult. Der römische Staat war der Erbfolger der griechischen Polis-Idee. Er hatte diese Idee ins ökumenische erweitert, indem er das Bürgerrecht der Stadt ausgeweitet hatte zu einem römischen Weltbürgerrecht. Er hatte zugleich die alte Polis- Einheit von Kult und Politik erneuert und sie zum zwingenden Gesetz des Reiches gemacht. In der Verehrung der römischen Kaiser gipfelte der Kult der Götter. An diesem Punkt,dem Kaiseropfer, entbrannte der Streit mit dem jungen Christen­tum.

Mit Christi Inkarnation und Opfertod ist „die Zeit erfüllt“, der Bann irdisch-geschichtlicher Macht ge­brochen. Damit werden Staat und Politik etwas anderes, als sie bis dahin waren – sie enthüllen sich in einem radikalen Sinn als menschliche Schöpfung, als „Menschenwerk“. Das Politische ist nichts Gött­liches. Es wird – christlich gesprochen, zu sich selbst, zu seinen irdischen Zwecken befreit. Seine eige­ne, nicht mehr mit Religion und Kult ununterscheidbar verflochtene Geschichte beginnt.

Die Geschichte des Christentums ist die Geschichte einer fortwährenden Destruktion „politischer Theologien“. Die Lehre von der göttlichen Monarchie scheiterte am trinitarischen Dogma. Die Pax Augustea im Sinn eines ewigen Friedens fand ihre Grenze an der christlichen Eschatologie. Der christ­liche Kaiser des Mittelalters verlor im Investiturstreit seine numinosen Qualitäten. In der Neuzeit wur­den nacheinander die monarchische Geschichtstheologie Bossuets und ihr Gegenstück, die theologi­sche Demokratielehre der Konstitutionalisten in der Französischen Revolution, entzaubert. Darin wird deutlich, dass das Politische im christlichen äon nicht mehr, wie in der Antike, rundum den Daseins­sinn des Menschen bestimmt und beherrscht, dass es vielmehr ein Nicht-Absolutes, ein Vorletztes dar­stellt, das für den Menschen Dienst- und Instrumentcharakter hat. Der Christ nämlich soll, nach einer Formulierung Augustins, diese Welt, auch die politische, nicht „anbeten“, sondern „pflügen“ – das heißt sie erkennen und konstruktiv weiterbilden.

Man könnte denken, ein Rückfall in mythische Vorstellungen einer „politischen Religion“ sei wenig wahrscheinlich, die Schreckenserfahrungen totalitärer Herrschaft lägen noch zu nahe. Doch der „redi­vinisierte“ (Eric Voegelin) Staat bleibt nach meiner Meinung auch für die Zukunft eine reale Gefahr – zumal in vielen Teilen der einstmals christlichen Welt das postchristliche religiöse Vakuum fortbe­steht. überall, wo die christliche Scheidung der Gewalten in Frage gestellt wird, wird der Staat not­wendigerweise zum Alleinherrscher ohne Appellationsinstanz, zur selbstbezogenen Macht, gegen die sich der einzelne nur unter Aufbietung aller Kräfte des Willens und des Intellekts zu wehren vermag. Es gehört zum Bild einer „Welt ohne Christentum“, dass in ihr mit dem omnipotenten Staat zugleich auch der Terror antiquus und der panische Angstschrei der Opfer wiederkehrt.

II. Neues Bild des Menschen 

Aber das Christentum hat nicht nur die spätantike Welt „entgöttert“ – es hat auch ein neues Bild des Menschen entworfen. Das Neue Testament sieht den Menschen unter mancherlei Winkeln der Frag­würdigkeit. Nicht das Edle, Wohlgeratene, Vollendete steht im Vordergrund – auch Arme, Kranke, Besessene, Hässliche, Niedrige, und gerade sie, haben ihren Platz in den biblischen Erzählungen. Dass sie ebenso zu den Adressaten der „Frohen Botschaft“ gehören wie die Reichen und Mächtigen dieser Welt, dass auch für die letzten unter ihnen, die am Rand der Gesellschaft leben, der Ruf des Men­schensohnes gilt, dass der Ruf zur Umkehr buchstäblich „an alle“ ergeht – das hebt das christliche Menschenbild ab vom griechischen Ideal der Schönheit und „Wohlgeratenheit“, einem Ideal, das nur wenige erreichen können, das den meisten verschlossen bleiben muss.

Das frühe Christentum entwickelt Formen des Zusammenlebens, die sich von den Gewohnheiten sei­ner Umgebung deutlich abheben. Neue charakteristische Elemente treten hervor: die Aufhebung sozia­ler Schranken; die Praxis des Miteinander (allelon); die Bruderliebe, die Feindesliebe – endlich das Verständnis der Gemeinde als Gemeinschaft der Heiligen in der Welt und als Zeichen für die Völker.

War das frühe Christentum eine Zeit der Distanz, der Kritik an der umgebenden Kultur, der Erwartung des Weltendes und der Wiederkunft Christi, so kehrten sich in der Folgezeit die Akzente um. Mit der Entstehung einer christlichen Gesellschaft in Ost- und Westrom, später im Norden, Nordwesten und Osten Europas erwachte eine stärkere Weltaktivität der Christen. Mit dem Christlich- Werden ganzer Völker wuchs die Kirche im Abendland aus ihrer alten Minderheits- und Diaporasituation hinaus.

Kirche und Staat begannen die Menschen eines bestimmten Raumes gemeinsam zu umfassen. Eine Identifikation der Kirche mit der politischen Gemeinschaft des Volkes wurde möglich. Christliche Im­pulse wirkten vielfältig in die öffentlichkeit hinein. Der Staat wurde zum erweiterten Leib des Kir­chenvolkes. Was wir heute „Volkskirche“ nennen, nimmt seinen Anfang von dieser historischen Kon­stellation.

So differenzierte die Kirche das adelig-bäuerliche Herrschaftsgefüge, formte es aus einem Verhältnis von Gewalt und Gehorsam zu einem Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten um. Erst dadurch konnten aus Machtträgern und Machtunterworfenen „Stände“ innerhalb eines größeren Ganzen wer­den. Unreflektierte Machtausübung wurde zur Wahrnehmung eines „Amtes“. So versteht man, dass sich im Schoß der Kirche eine Vielzahl von Tätigkeiten entwickelte, die wir heute ganz unreflektiert als „staatlich“ empfinden: Personenstandswesen, Sorge für Arme und Kranke, Einrichtungen der Er­ziehung, Bildung, Wissenschaft.

Das waren keine Usurpationen. Dem Staat – der noch kaum existierte – wurde nichts weggenommen. Vielmehr entstanden diese Tätigkeiten unmittelbar aus dem Eingehen der Kirche in die Welt. Sie stan­den im Dienst einer sich allmählich ausformenden christlichen Ordnung des Lebens. So der Personen­stand: der einzelne wurde – über Familie, Sippe, Stand hinaus – in seiner Individualität erkannt. So Er­ziehung und Bildung: die breite Wirkung christlicher Lehren wäre nicht möglich gewesen ohne sie. So das Armen- und Krankenwesen: in einer christlichen Umwelt durfte kein Mensch ins Leere fallen. Hier sind Elemente moderner politischer Kultur vorgeprägt: es gibt in der Antike keine institutionellen Einrichtungen, die modernen Schulen, Fürsorgeanstalten, Krankenhäusern vergleichbar wären.

So hinterlässt das biblische Menschenbild deutliche Spuren in der Geschichte des modernen Rechts­staats, Sozialstaats, Kulturstaats. Das Bild des leidenden, geopferten Menschensohnes hält die Erinne­rung wach an die Leidenden und Armen – und an die Pflichten der Gesunden, Reichen, Mächtigen ih­nen gegenüber. Das christliche Kreuz wirft die Frage auf nach dem Sinn von Leid und Tod. Es erin­nert an die Grenzen menschlichen Handelns und Planens und leistet dadurch Aufklärung über den Zu­stand der wirklichen Welt.

Auch hier kann man die Frage stellen: Existiert der heutige Rechts- und Sozialstaat, der den Menschen in seiner Individualität und Sozialität schützt, seine Entfaltung möglich macht und ihn im Alter, in Krankheit und Not nicht im Stich lässt, unabhängig von seinen christlichen Ursprüngen? Trägt er sich – wie vieles in postchristlichen Zeiten – „von selbst“, ohne einer geschichtlichen oder geistigen Be­gründung zu bedürfen ? Oder braucht er noch den christlichen Bezugsrahmen? In der Tat sind viele Anstöße des Christentums in die politischen Sachstrukturen der Moderne einge­gangen. Wir vertrauen darauf, dass Menschenwürde und Menschenrecht, Freiheit und sozialer Aus­gleich für alle einleuch­tend, überzeugend, selbst-evident sind – tatsächlich scheinen sie es weithin zu sein.

Und doch wissen wir nicht, ob die Kultur des Sozialstaats den Untergang der Nächstenliebe überste­hen würde, ob die Solidarität mit dem Nächsten nicht verschwinden müßte, wenn dieser nur noch der Fremde, der Andere wäre, der Konkurrent, ja der Feind. Und kann es so etwas wie soziale Verantwor­tung überhaupt noch geben, wenn der Schutz des Lebens grundsätzlich in Frage gestellt wird, sei es nun das Leben der Ungeborenen oder das der Alten, Behinderten, Dementen?

III. Zeit und Verantwortung 

Ein drittes Fundament des modernen Verfassungsstaates hängt deutlich mit christlichen überlieferun­gen zusammen: ich meine das Gefühl für den Wert der Zeit, ihre Unwiederbringlichkeit und Unwie­derholbarkeit – und das daraus erwachsende „responsible government“, die Wahrnehmung politischer Aufgaben in festen, kontrollierbaren Verantwortungszeiten und –räumen.

Es hat sich dem westlichen Menschen in Jahrhunderten christlicher Erziehung tief eingeprägt, dass die Zeit eine Frist ist, begrenzt und kostbar, und dass sie unaufhaltsam voranschreitet, dem Ende zu. Aus diesem Gefühl erwuchs eine strenge Kultur der Lebensgestaltung, eine Ordnung des Zählens, Mes­sens, Einteilens, die vom Stundengebet der Mönche bis zum Kalender der Kaufleute, vom altchristli­chen „Ora et labora“ bis zum modernen Countdown, vom Computus der Computisten, die im Frühmit­telalter den Ostertermin berechneten, bis zum modernen Computer reicht.

Das Christentum macht politisches Handeln rechenschaftspflichtig vor Gott und dem Gewissen. Damit werden die überlieferten Formen politischer Identifikation des einzelnen mit der Bürgergemeinde brü­chig. Es genügt jetzt nicht mehr, dass der politisch Handelnde für die Bürgerschaft das äußerste wagt und sich mit seiner Gemeinde – wenn er erfolgreich ist und nicht untergeht – in ewigem Ruhm verbin­det. Die bedingungslose bürgerliche Hingabe, der „Heimfall ans Allgemeine“ (Jacob Burckhardt) – Kern des antiken politischen Ethos – wird in christlichen Zeiten fragwürdig.

Verantwortung wird in christlichen Zeiten neu und strenger gefasst: Wie der Mensch über sein ganzes Leben Rechenschaft ablegen muss vor dem ewigen Richter, so wird jetzt auch der politische Bereich zum Raum persönlicher Verantwortung; jeder Schritt muss bedacht, jede Handlung überlegt und abge­wogen werden.

Den entscheidenden Schritt zur Organisation von Verantwortlichkeit tut dann freilich erst der moderne Verfassungsstaat. Er schafft klare Verantwortungsräume und Verantwortungszeiten. Er macht deut­lich, wer sich zu verantworten hat, in welchen zeitlichen Abständen, vor welchen Instanzen, mit wel­chen Verfahren der Bestätigung oder Verwerfung. Vor allem: Er zerlegt die Machtausübung und macht sie dadurch der übersicht und Kontrolle zugänglich. Eine Vielzahl rechtlicher und politischer Verantwortungsfelder entsteht. Sie dehnen sich in der modernen Demokratie auf die ganze Breite des Staatslebens aus: responsible government heißt schließlich, dass die Herrschenden insgesamt den Be­herrschten verantwortlich sind.

Der Christ weiß, dass das Ende immer schon nahe ist. So misstraut er den Programmen innerge­schichtlicher Perfektibilität. Er weiß, dass der Fortschritt – den er begrüßt – nicht unendlich sein kann, weil die Welt auf ihr Ende zuläuft und eines Tages von „Gottes Zeit“ eingeholt wird. Diese Einsicht muss keineswegs bedrückend sein, sie kann befreiend wirken. Denn sie macht den Menschen fähig, über sachliche und pragmatische Lösungen in politischen Fragen nachzudenken.

Auch der Christ soll und darf das bedenken, was das Zweite Vaticanum die „Autonomie der weltli­chen Sachbereiche“ genannt hat. Er weiß, dass ewiges Heil und irdisches Wohl nicht einfach identisch sind, dass man der „Welt unter Gott“ nicht mit dem Gestus der Allwissenheit, noch weniger mit einem Auserwähltheitswahn begegnen darf. Und so kann er sich in den profanen Feldern von Wirtschaft, Po­litik, Kultur vertrauensvoll und ohne Zwang bewegen – „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“, wie unser Grundgesetz behutsam und bescheiden sagt.

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus sowie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität München (Guardini Lehrstuhl).

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