DIE LOGIK DES ASSISTIERTEN SUIZIDS

Manfred Spieker warnt vor dem Streben nach Planungssicherheit des Lebens bin in die letzten Tage und den damit verbundenen Gefahren für den Lebensschutz.

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Manfred Spieker

Die Logik des assistierten Suizids

Der Vorschlag der ehemaligen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger im Sommer 2013, durch einen neuen § 217 StGB die gewerbsmäßige Suizidbeihilfe zu verbieten, hätte fatale Folgen gehabt: er hätte bei einem Verbot allein der gewerbsmäßigen Suizidbeihilfe diese Beihilfe durch Ärzte, Angehöri­ge und gemeinnützige Vereine legalisiert um nicht zu sagen privilegiert. Viele waren deshalb froh, dass der Vorschlag der Ministerin bald in den Akten verschwand und sich schließlich mit dem Ende der Le­gislaturperiode im Sommer 2013 von selbst erledigte.

Nun aber kommt die Debatte erneut in Gang. Bundesgesundheitsminister Gröhe will jegliche Suizidbeih­ilfe verbieten. Der Bundestag will bis zum Herbst 2015 eine entsprechende Regelung beschließen. Schon jetzt wurde die Entscheidung vom Fraktionszwang befreit und dem Gewissen der Abgeordneten anheimgestellt. Die Kollegen Bora­sio, Jox, Wiesing und Taupitz haben am 26. August 2014 einen Gesetzes­vorschlag präsentiert, der den assistierten Suizid unter dem Mantel eines generellen Verbots in § 217 Abs. 1 in § 217 Abs. 2 und Abs. 3 legalisiert. In diesen beiden Absätzen werden die Personen genannt, die nicht nach Abs. 1 strafbar sein sollen: Angehörige oder dem Betroffenen nahestehende Personen und Ärzte. In Abs. 4 werden dann fünf Bedingungen genannt, die Ärzte beachten müssen, wenn sie Suizid­beihilfe leisten wollen: freiwilligen Suizidwunsch des Patienten, unheilbare Erkrankung mit begrenz­ter Lebenserwartung, palliativmedizinische Aufklärung, Gutachten eines zweiten Arztes und zehn Tage Wartezeit zwischen Suizidwunsch und tödlicher Beihilfe. Abs. 5 soll dann den Bundesgesundheitsminist­er ermächtigen, die fachliche Qualifikation der beteiligten Ärzte, die Aufklä­rungspflicht und die Dokumentation zu regeln. Dass die fünf Bedingungen in Abs. 4 der ärztlichen Sui­zidbeihilfe auf den ersten Blick enge Grenzen setzen, aber in der Realität ohne Bedeutung sein werden, zeigen die Erfahrungen mit den Euthanasiegesetzen in den Niederlanden und in Belgien.

Das Verfahren zur Legalisierung der Suizidbeihilfe, das die vier Kollegen vorschlagen, erinnert an die Reform des Abtreibungsstrafrechts 1995, die in § 218 zunächst Abtreibung generell verbietet, dann aber in § 218a die Bedingungen nennt, unter denen „der Tatbestand des § 218 nicht verwirklicht (ist)“, Ab­treibung also legalisiert wird. Erfahrungen von 20 Jahren mit dieser Regelung zeigen, dass § 218 im Ef­fekt durch § 218a zur Makulatur gemacht wird. Die Schwangerschaftskonfliktberatung in § 219, die der Schwangeren Perspektiven für ein Leben mit dem Kind eröffnen und dessen eigenes Recht auf Leben betonen soll, ist in der Realität ebenfalls ohne Bedeutung.

Forderungen nach einer Legalisierung des assistierten Suizids werden in der Regel mit dem Recht auf Selbstbestimmung begründet. Dieses Recht auf Selbstbestimmung gilt als Kern der Menschenwürde. So verkleiden sich Vereinigungen, die die Legalisierung des assistierten Suizids verlangen, nicht sel­ten mit hehren Begriffen wie Dignitas oder Gesellschaft für humanes Sterben. Auch Taupitz und Kollegen wol­len mit ihrem Gesetzesvorschlag „Freiräume für ein selbstbestimmtes Sterben“ sichern und so „den Le­bensschutz stärken“. Wer sich mit diesem Gesetzesvorschlag beschäftigt, stößt auf drei Probleme: 1. das Problem der Selbstbestimmung; 2. das Problem des Lebensschutzes und 3. das Pro­blem der aktiven Sterbehilfe, die eine logische Konsequenz des assistierten Suizids ist.

1. Das Problem der Selbstbestimmung

Wenn der Mensch in der Mitte seines Lebens und im Vollbesitz seiner Kräfte steht, neigt er dazu, auch das Sterben seinen Autonomieansprüchen zu unterwerfen. Auch Taupitz und Kollegen wollen mit ih­rem Gesetzesvorschlag den betroffenen Patienten ermöglichen, „die Kontrolle über das eigene Lebens­ende zu wahren“. Der Mensch möchte Planungssicherheit bis zum letzten Tag seines Lebens. Aber Planungs­sicherheit bis zum Ende des Lebens ist eine Illusion wie auch das „Selbst“ eine Illusion ist. Der Mensch ist eingebunden in vielfältige soziale Beziehungen. Seine Freiheit verwirklicht sich nicht in einer Autar­kie des eigenen Ichs ohne Bezug auf andere. Gerade die Suizidversuche zeigen diese so­ziale Eingebun­denheit des Menschen. Sie sind in der Regel Appelle, um nicht zu sagen Hilfeschreie an die dem Ver­zweifelten nahestehenden Personen. Jede Selbsttötung ist deshalb auch eine Verletzung der sozialen Be­ziehungen. „Der Selbstmord – scheinbar das persönlichste, nur gegen das Ich gerichtete Vergehen – ist in Wahrheit nicht auf das Subjekt beschränkt“. Wer sein eigenes Leben nicht achtet, „verletzt das Leben überhaupt und empört sich gegen den, der alles Leben gegeben hat“(Reinhold Schneider, Über den Selbstmord, 1947). Je mehr die Kräfte schwinden und je näher der Tod kommt, desto schärfer wird der Blick dafür, dass weniger Selbstbestimmung, als vielmehr Selbsthingabe das Wesen des Menschen aus­macht. Nicht das abgebrochene, sondern das zu Ende gelebte Sterben – an der Hand, nicht durch die Hand von Angehörigen – ist Ausdruck wahrer Selbstbestimmung. Im Ster­ben verwandelt sich die Selbstbestimmung zur Selbsthingabe – nicht nur für den Sterbenden, sondern auch für seine Angehöri­gen.

Eine in Deutschland viel beachtete Illustration dieses Perspektivenwandels ist das Schicksal von Wal­ter Jens und das Verhalten seiner Angehörigen. Mitte der 90er Jahre plädierte Jens zusammen mit Hans Küng für die aktive Sterbehilfe. Der Sterbende soll, so Jens, im Gedächtnis seiner Angehörigen als „ein Autonomie beanspruchendes Subjekt…und nicht als entwürdigtes, verzerrtes und entstelltes Wesen“ in Erinnerung bleiben. Im Alter von 80 Jahren fiel Jens 2003 in eine fortschreitende Demenz. Den Zeit­punkt, seinem Leben ein Ende zu machen, sagte seine Frau Inge Anfang April 2008, habe er verpasst. Aber sie berichtete auch, dass sein Leben bei aller Tragik Freude kenne, wenn auch nur über Spazier­gänge mit einer Pflegerin, über eine Tafel Schokolade oder ein „Wurschtweggle“. Auch Til­man Jens, der Sohn der beiden, der den Verfall seines Vaters 2010 in einem Buch „Demenz. Abschied von meinem Vater“ schilderte, berichtet von dessen Wort „Aber schön ist es doch…“, weshalb die Fa­milie von dem Mandat zu aktiver Sterbehilfe nichts mehr wissen will. Der Fall Jens bestätigt die Fest­stellung von Jo­hann-Christoph Student, dass nämlich die Überlegung, ein Mensch könne in der De­menz dasselbe mei­nen, fühlen und wünschen wie in gesunden Zeiten „die unwahrscheinlichste aller Denkmöglichkeiten“ ist.

2. Das Problem des Lebensschutzes

Wer den assistierten Suizid legalisieren will, behauptet häufig, wie Taupitz und Kollegen, den Lebens­schutz stärken, Suizide verhindern und sozialem Druck vorbeugen zu wollen. Wenn jedoch im Falle ei­nes unerträglichen Leidens der Tod auf Rezept ermöglicht wird, wird dem sozialen Druck erst die Bahn geebnet. „Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschafts­pflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet“ (Johannes Rau, Berliner Rede, 2001). Es entsteht ein psychischer Druck, den medizinischen, pflegerischen und finanziellen Aufwand zu ver­meiden und sich dem Trend des sozialverträglichen Frühablebens anzuschließen. Wer will noch wei­terleben, wenn er spürt, dass sein Weiterleben den Angehörigen eine große Last bedeutet? Eine tödli­che Falle der Selbstbestimmung: sie mündet in Selbstentsorgung. Mit brutaler Deutlichkeit melden sich in der Philo­sophie (Dagmar Fenner) und in der Rechtswissenschaft (Manfred von Lewinski) Stimmen, zu einer sol­chen Selbstentsorgung auffordern. Suizidwillige Personen sollten zwar die negativen Konsequenzen ih­rer Selbsttötung auf ihr soziales Umfeld in Rechnung stellen. „Noch viel mehr dürfte man dann aber von jemandem im Falle einer unheilbaren und höchst pflegeintensiven Krankheit erwarten, dass er die emo­tionale Belastung, zeitliche Inanspruchnahme und finanziellen Lasten seiner Existenz für die Angehöri­gen und Freunde wahrnimmt. Denn nicht nur für die negativen sozialen Folgen des Aus-dem-Leben-Scheidens sind wir verantwortlich, sondern selbstverständlich auch für diejenigen des Weiterlebens“. Die Beihilfe zu einem „altruistischen Suizid“, der letztlich ja gar nicht so ganz altruistisch sei, sondern auch im Eigeninteresse der suizidwilligen Person liege, sei deshalb „ein letzter humaner solidarischer Akt“. Der Druck der demographischen Entwicklung wird den generationenverträglichen Suizid adeln.

3. Das Problem der aktiven Sterbehilfe

Wer den assistierten Suizid legalisieren will, behauptet oft, die aktive Sterbehilfe abzulehnen. „Einer Entwicklung wie in Holland und Belgien, wo die Tötung auf Verlangen nachweislich auch bei entscheid­ungsunfähigen Menschen, psychisch Kranken, gesunden Hochbetagten sowie Minderjährigen durchgeführt wird, gilt es unbedingt vorzubeugen“, schreiben Taupitz und Kollegen in der Begrün­dung ihres Gesetzesvorschlags. Was jedoch soll geschehen, wenn der Suizid aus welchen Gründen auch im­mer nicht gelingt? Dass dies vorkommt, zeigen die Erfahrungen in den Niederlanden. Sowohl in den Jahresberichten der Regionalen Kontrollkommissionen als auch in den von der Regierung in Auftrag ge­gebenen wissenschaftlichen Untersuchungen der Euthanasiepraxis ist von Fällen die Rede, in denen bei der Beihilfe zum Suizid Probleme auftreten, die die Ärzte veranlassten, zur aktiven Ster­behilfe überzu­gehen. Die Kontrolle über das eigene Lebensende ist im Akt des Suizids also keines­wegs gewährleistet. Die aktive Sterbehilfe liegt deshalb in der Logik des assistierten Suizids. Dies zeigt nicht nur die Realität in den Niederlanden. Auch die Veränderung der ärztlichen Tätigkeit zwingt zu diesem Schluss. Wer dem Arzt erlaubt, Assistent bei der Selbsttötung zu sein, wird sich fragen müssen, warum er den Arzt nicht gleich aktive Sterbehilfe lege artis leisten lassen will, um das Risiko des Scheiterns der Selbsttö­tung auszuschließen. Er wird sich fragen müssen, wie er den Erfolg des Suizids überprüfen will. Durch einen Sehschlitz in der Tür des Patienten? Durch eine Kamera? Durch Kontrollgänge des Pflegeperso­nals in Alten- und Pflegeheimen? Wie lange darf der Todeskampf des Suizidenten dauern, bevor der Arzt ihm durch eine tödliche Injektion „hilft“, sein Ziel zu erreichen? Muss dann nicht auch die Straf­barkeit unterlassener Hilfeleistung in § 323c StGB geändert werden? Wenige Schlagzeilen in der Boule­vardpresse über das Leid der Patienten bei misslungener Beihilfe zum Suizid oder bei Unfähigkeit, den tödlichen Cocktail, den der Arzt zur Verfügung stellte, selbst zu trinken, werden ausreichen, um die akti­ve Sterbehilfe nach den Regeln ärztlicher Kunst zu fordern und als humanen Akt erscheinen zu lassen.

In der Logik dieser Entwicklung liegen ausgebildete Sterbehelfer, die für ihre Dienstleistung eine Er­folgs- oder zumindest eine Qualitätsgarantie anbieten. Die Schweizerische Akademie für medizinische Wissenschaften hat 2003 standesrechtliche Empfehlungen zum „Suizid unter Beihilfe eines Dritten“ ver­abschiedet, weil die demographische Entwicklung und steigende Gesundheitskosten dazu führten, dass ältere Menschen in Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen nicht mehr ausreichend versorgt wer­den könnten und bei ihnen deshalb den Wunsch entstünde, getötet zu werden. In solchen Fällen bedür­fe es klarer Regeln für Ärzte, Pflegepersonal und Verwaltungen von entsprechenden Einrichtungen. Der Sui­zid made in Switzerland könnte so zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Suizid made in Nether­lands werden. Werden Alten- und Pflegeheime in Zukunft mit der hohen oder niedrigen Zahl erfolgrei­cher Suizide gegeneinander konkurrieren? Fragen über Fragen, die Taupitz und Kollegen nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet haben, die aber alle zu dem Ergebnis führen: die aktive Sterbehil­fe ist die logische Konsequenz der Legalisierung des assistierten Suizids. Wer die akti­ve Sterbehilfe ver­meiden will, muss die Beihilfe zum Suizid nicht nur durch kommerzielle oder ge­meinnützige Vereine sondern auch durch Ärzte und Angehörige verbieten. Wenn der Suizid in Deutschland strafrechtlich nicht verfolgt wird, bedeutet dies nicht, dass er gesetzlich erlaubt wäre, son­dern lediglich, dass er sich der rechtlichen Normierung entzieht, weil niemand mehr existiert, der rechtlich belangt werden könnte. Dass deshalb auch die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar sei, ist kei­ne zwingende Schlussfolgerung, wie Taupitz und Kollegen behaupten. Die Regelung des österrei­chischen Strafgesetzbuches, die die Beihilfe zum Suizid mit der aktiven Sterbehilfe gleichsetzt und verbietet, zeigt dies. Sie ist juristisch die einzig logische und moralisch die einzig richtige Lösung.

Manfred Spieker (1943) ist Professor i. R. für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück .2002 – 2007 war er Präsident der Internationalen Vereinigung für Christliche Soziallehre.  Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Feldern des Sozialstaates, der Bio- Friedens- und Wirtschaftsethik. 2012 wurde er zum Konsultor des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden durch Papst Benedikt XVI. ernannt.

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